Hühnergotter. Die Pflege retten als Geschäftsmodell

Ich bin eine erwachsene Frau in den 1990ern gewesen, als die ersten Boygroups aufkamen. Das Konzept war denkbar einfach: es war für jede was dabei. Jeder denkbare Frauentyp wurde angesprochen. Man dachte sich nichts dabei, die Shows waren gut. Das Problem: einzeln performten die gar nicht mehr so gut, viele Karrieren zerbrachen.

Deutschland vor ein paar Jahren. Wie aus dem Nichts taucht eine sagenhafte Gestalt am Pflegehimmel auf. Ein Pflegepreis, der sich später als Influencerkooperation erweisen wird, turnt mit populistischen Sprüchen durchs Internet. Die Fanbase rast vor Entzücken. Und das tut sie bis heute. Nichts, was in den Facebookposts steht, wird hinterfragt. Herziherz auf voller Linie, die ganzen Messages schreien einem ins Gesicht, dass Kompetenz völlig unnötig ist.

Fast gleichzeitig taucht, ebenso fast aus dem Nichts, ein Auszubildender in der Wahlarena auf und konfrontiert Merkel mit dem Pflegenotstand. Die Karriere ist rasend. Fernsehen, Buch, Gesundheitsausschuss.

Beide Phänomene werden mit frenetischen Jubelrufen aus der Pflege begleitet. „Endlich sagt es mal einer!“. Auf meinem Schreibtisch entzünden sich zu dieser Zeit die Berichte von Menschen wie Sabine Bartolomeyczik, Elke Müller, Antje Grauhan, Monika Krohwinkel. Alles Frauen, die es schon lange gesagt hatten. Nämlich, dass die Pflege gegen die Wand fährt. Öffentlich, meist unter einem hohen Preis. Bartholomeyczik publizierte dereinst einen Artikel darüber, wie schwierig es in den 1970ern war, den Mund aufzumachen. Grauhan bezahlte ihre Idee, dass Pflege eigentlich Diplommediziner Pflege seien, mit einer Art Silencing. Sie war zu früh dran. „Endlich sagt es mal einer?“

Die öffentlichen Plätze werden von Männern dominiert, die, ähnlich wie die Boygroups früher, jeder einen anderen Typ repräsentieren. In einem Frauenberuf, der bis zu 90% weibliche Arbeitnehmerinnen hat. Die Herren haben eine Botschaft. Sie alle retten die Pflege. Der Ritter auf dem weißen Pferd ist da- Hosi-Anna quasi (Achtung, Kalauer!) Der eine, indem er eine Hood formiert, die einem Pflegehumor zujubelt, den meine Community als eklatanten Coolout Framen würde. Wer das nicht lustig findet, der wird mit misogynen Stories durch Instagram gejagt.

Der andere, ebenso aus dem Nebel plötzlich aufgetaucht, pampt Politiker an, wann immer sich ihm die Gelegenheit bietet. Nach meinem Geschmack wird hier eine fatale Botschaft transportiert. Nämlich die, dass Pflege nicht in der Lage ist, einen ordentlichen harten Diskurs in der Sache zu führen, ohne despektierlich zu werden. Wer das nicht lustig findet, oder sich nicht vertreten fühlt, der hat schnell ein Problem.

Der nächste brilliert durch misogyne Kommentare, die sich, als er Funktionär wird, auch mal ins Rassistische steigern. Aber alles nicht so schlimm, denn im Worst-Case gibt es noch Boygroup-Member Manager from the Block, der immer mal wieder aus der Reihe tanzt, die Choreografie nicht beherrscht, und in seinem Instagram-Hotelzimmer randaliert wie früher Rockbands nach der Aftershow-Party.

Alle haben eins gemeinsam: sie sind alle die Größten.

Die Frauen ziehen nach. Aus einer einstmals wahnsinnig eloquenten, ernstzunehmenden Aktivistin wird im Handumdrehen ein Pflegehumorvideos drehender Oleg Popow ohne tiefere Message. Die Menge johlt. Endlich sagts… nee..endlich hat man mal was zu lachen. Es folgen Frauen aus allen möglichen Interessengruppen. Tausende Fotos im immer gleichen Pflegeoberteil. Rührender Text. Herzchenherzchen… flache Botschaft. Likey, likey….

Pseudoindividualität hätte Adorno das genannt. Alle sehen gleich aus, aber natürlich ganz individuell auf Kulturkapitalismus ausgerichtet. Nurses Massengeschmack in blond, brünett und rot.

Die Rettung der Pflege hat einen harten Preis. In den Stories läuft erst die Pflegepolitik, dann kommt die Werbung in einer Frequenz, in der es den großen Sendern den Atem verschlagen hätte.

Ausgebrannt? Nimm doch Hanftropfen. Der Hund hat Durchfall? Nicht mit diesem Dosenfutter! Schmuck, Hautcreme, Eiweißdrinks. Von irgendwas muss man ja leben. Bei einem Drink, der verspricht, echte Nahrung zu sein, möchte ich mein Handy in die Ecke werfen. Die, so die Botschaft, braucht man, um den Dienst zu überstehen. Meiner Haltung nach braucht man dazu ne Vollkornstulle mit was drauf, n Apfel – und vor allem Zeit. Und nicht, mal eben in Sekunden einen Drink in sich reinzujubeln. Aber was weiß ich schon?

Es formieren sich Communities, die so agieren wie Hooligans bei Fußballspielen. Im Grunde geht es um Gruppenkohäsion, mein Star, meine Community, mein Block, Alter – und nicht um Pflege. Immer wieder ist zu erleben, wie sich die Gruppen in die Haare kriegen. Um Pflege geht es da schon lange nicht mehr, auch, wenn es tausendfach in den Kommentaren zu lesen ist: Danke, was DU alles für die Pflege tust! – Und ich denke mir dann, wo ist denn bitte der OUTPUT für die Kolleginnen da draußen? Es gibt ihn nicht, keine Verbesserungen.

Die Verbände kommen kaum hinter der Entwicklung her. Können sie auch nicht, denn sie sind teilweise wirklich mit politischer Arbeit beschäftigt. Undenkbar, dass Herr Wittmann vor seinem Gang ins Ministerium eine Story macht, einen Drink anpreist und noch ein Reel dreht. Undenkbar, dass Frau Vogler oder Frau Moll morgens mit der Kaffeetasse grüßen und Stories aus ihren Betten machen – und einen DBFK-Hoodie anbieten. Die Glaubwürdigkeit wäre dahin. Zurecht.

Doch Social Media ist mittlerweile so laut, dass die Arbeit der Verbände dahinter verblasst. Für „die Pflege“ sprechen mittlerweile jeweils die, die die meisten Follower haben. Der Flickenteppich Pflegevertretung hat Risse und Löcher im Land und die Vertretungen posten artigen Content, Kacheln.. die ungefähr so langweilig sind wie eine endoskopische Cholecystektomie oder ein Abdomen-Sono.

Die Einigkeit, die man sich für Pflege wünscht, – 1,7 Millionen Arbeitnehmer*innen sind kein Pappenstiel – sie zerfällt in Fanbases, die zwar keine Grautöne zwischen Schwarz und Weiß kennen, aber auch keine berufspolitischen Ziele. Man will sehen, um das Gefühl zu haben, gesehen zu werden.

Es wird paradox. Die Gewerkschaft wird als zu teuer bemängelt, das Einlösen des jeweiligen Rabattcodes – da hat man wenigstens was in der Hand. Es wird ungerecht, denn die 90%, die nicht organisiert sind, sie profitieren von denen, die organisiert und operativ ihre Tarivarbeit machen, weil sie in Tarifverträgen mitgemeint sind. Echte politische Arbeit ist langweilig – man will das nicht miterleben. Das sollen andere machen und überhaupt, die Stories flimmern so schön.

Likes gelten als Währung im Internet. Und sie sind für nicht wenige mehr als das. Sie sind Bestätigung. Das pure Dopamin. Wenn 4000 Leute mögen, was Du oberflächlich unter Deinen Beitrag gepostet hast, dann kannst Du nicht falsch liegen. Jeder ist der Größte. Es geht dabei nicht um Qualität sondern um LikeQuantität.

Die Pflege huldigt ihren Hühnergöttern wie Gurus, die bessere Zeiten versprechen. Und wenn es nur 15 Sekunden in einer Story sind.

Andere wollen das auch. Dafür wird jetzt alles vor die Kamera gezerrt, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Notfalls unfreiwillig. Die Likes müssen rein, die Followerschaft erhöht werden. Und wenn Du nichts eigenes zu bieten hast, dann zerrst Du jede Woche zwei vermeintliche Skandale vor die Linse, und feuerst mit einer frustrierten Gemeinde aus teilweise internetgewaltbereiten Follower Shitstorms gegen Frauen ab, die möglichst wenige Follower haben. Es sind IMMER Frauen! Es sind immer Kleinaccounts, die das Bauernopfer machen müssen. Das bringt Likes, die Empörung zu entladen. An die großen Accounts geht man dabei nicht. Denn das würde die Follower der anderen notfalls gegen einen selbst aufbringen. Und um dem Fass die Krone aufzusetzen, streamt man das, was man doch als widerwärtig ankreiden will, unter dem Deckmantel der Moral bei Youtube. Da verdient man gleich doppelt: einmal bei seinen Kooperationen und einmal bei Youtube.

Zu kritisieren ist das keinesfalls, denn sonst beschwert sich die Gemeinde darüber, dass das nicht LOYAL sei. Tatsächlich schreibt mich eine Influencerin an, warum man denn KRITIK übe. Ob sie was übersehe? Ich muss ein bisschen lachen und weil ich weiß, dass sie die Sphären des normalen berufspolitischen Denkens längst verlassen hat, wünsche ich ihr einen guten Tag und ein gutes Jahr. Gegen Ideologien diskutiere ich nicht.

Die Menge, durch die Kliniken hierarchisch geprägt, BRAUCHT einen Hühnergott. Einer soll vorturnen, soll sagen, was zu passieren hat. In der Realität rächt sich das. Denn die Menge will, dass der Hühnergott und die Hühnergöttin im Netz tanzt. Von selber aktiv werden war da nicht die Rede. So verpuffen Demonstrationen und Kundgebungen, weil man vergessen hat, dass das ohne Stream nicht mehr läuft.

Es gelten keine Gesetze mehr. Es gibt jetzt eine internetbasierte Eminenz, die per Akklamation und per Drücken auf LIKE bestimmt, was Ethik und Moral sei. Kann man sich schwer ausdenken, ist aber so. Als hätte sich eine irre Parallelwelt eröffnet, die für Recht und Gesetz nicht zugänglich sind. Eine Welt, in der Du alles darfst, notfalls auch Patienten missbrauchen. Für Deinen Content. Eine Welt, in der ihre Bewohner sich gar nicht mehr vorstellen können, dass man Patienten nicht missbrauchen darf und dass es Berufspolitik ohne Beruhigungstropfen, Hundefutter, Hautcremes und Eiweißshakes gibt.

Groß die Empörung, wenn einzelne sagen: Jetzt reicht es mal, Du sprichst nicht für mich mit! In einer Welt, in der alle die Stimme der Pflege sind und in der alle durcheinanderschreien gibt es keine Ordnung mehr. Es gibt aber jede Menge Populismus, Content, der nur sagt, was die Menge hören will und Zeug, das keiner braucht.

Was es nicht gibt? Berufspolitische Veränderungen. Aber das war ja auch nie geplant, denn die Pflege retten ist ein Geschäftsmodell geworden, ein Mikrolobbyismus zwischen Kooperation und Aktivismus, Voyeurismus und Exhibitionismus, der Maskendeal des kleinen Mannes… der dem noch kleineren Mann die Aussicht auf ein besseres Berufsleben im 15 Sekunden-Takt verkauft. Der Hühnergott hat gesprochen. Es kann nicht mehr lange dauern. Und wenn doch, ist keinesfalls der Hühnergott dran schuld und die Tatsache, dass er selbst politisch gar nichts verändern kann, weil das Wissen um Marketing nicht das selbe ist wie das Wissen um zu verändernde Strukturen.

Aber das interessiert schon lange keinen mehr.

Seit Twitternwierüddel habe ich eine Menge kluger Frauen kennengelernt, die sehr, sehr viel sagen. Aber sie haben keinen Rabattcode, sind nicht Hühnergötteranbetungswürdig und haben sich teilweise mit Ekel im Magen vom Zirkus zurückgezogen. Da habt Ihr was verpasst. Aber das macht nichts, bald sind weiße Wochen und wenn Ihr viel Glück habt, gibt es erst 20 % auf eine Gewürzmischung und dann kommt Ihr viel besser durch die Doppeldienste. Oder nicht. Aber das ist die Realität und wen interessiert die schon?

Pic: Ansgar Koreng. Wikicommons

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