Pflege. Die unsichtbar Berührten

Jedes Semester, wenn ich mit meinen Studierenden das Thema Medizingeschichte des Mittelalters beginne, steige ich mit einer ganz einfach scheinenden Frage ein: „Wann haben Sie zuletzt einen Menschen auf der Straße gesehen, von dem Sie annahmen, dass er wirklich krank sei?“ Die Antwort darauf ist bislang nach einigen Minuten des Schweigens immer dieselbe und lautet: „Noch nie.“ Alter und Krankheit spielen sich zumeist außerhalb der visuellen Wahrnehmung ab. Sie sind verborgen, outgesourced, versteckt hinter den Mauern von Kliniken, Heimen, Residenzen oder den Gardinen der Wohnung der anderen.  Krankheit ist etwas sehr Intimes. So intim, dass selbst die moderne Presse noch immer angegriffen wird, wenn sie Bilder von prominenten Kranken zeigen will, weil das als der maximale und unethische Übergriff gewertet wird. Obwohl es auch Zeiten gab, in der Krankheit sichtbar war, spielte sich Krankheit im Wesentlichen immer hinter Mauern ab. In der Antike waren es die Mauern der Privathäuser und der Heiltempel, im Mittelalter dann auch die Spitäler und Klöster, die Leprösenhäuser und später dann Krankenhäuser, Psychiatrien und Altenheime.  Die Kranken hinter diesen Mauern vermuten wir. Wir können sie imaginieren in ihrem Leid, wir befassen uns gesellschaftlich mit ihren Themen, wir verhandeln Inklusion, Ableismus, Gerontologie und arbeiten uns ab an wordings vom „Menschen mit Demenz“ und um den Unterschied von „Essen anreichen“ statt „Füttern“. 

            Doch neben den Kranken existieren noch andere Menschen hinter diesen Mauern, die Sie wahrscheinlich bis jetzt nicht einmal mitgedacht haben. Gesunde, zumeist junge Frauen (annähernd 90% von ihnen sind weiblich), die einen Großteil ihres Lebens hinter diesen Mauern mit den Kranken zubringen. Auch für sie haben wir uns an wordings abgearbeitet. Sie waren Krankenschwestern, Gesundheits-und Krankenpflegerinnen und sind nun Pflegefachpersonen. Reframing statt Reformen hat hinter diesen Mauern Tradition. 

In der Antike waren es meist Sklavinnen, die Kranke pflegten. Sie suchten sich diese Arbeit nicht alleine aus. Sie mussten tun, was der Herr des Hauses von ihnen verlangte und auch sexuelle Dienstleistungen gehörten dazu. Sie hatten kein Anrecht auf ihren eigenen Körper, konnten nicht über ihn bestimmen, hatten kein Recht auf die freie Wahl ihres Aufenthaltsortes und waren zwar kostbare, aber austauschbare Ware. Ihre Kinder gehörten dem Herren gleich mit. Auch Nonnen verstanden sich als Sklavinnen des Herren und die aus der Klostermedizin geborene Krankenpflege verlagerte sich dann auf die „liebe und gute Frau“ deren innere Bestimmung es war, Kranke zu pflegen. Liebesdienst nannte man diese Tätigkeit. Der Arzt übernahm den Part des Herrn. 

So unberührt diese Frauen auch von unseren Gedanken und von Ereignissen des Lebens hinter den gesellschaftlichen Gardinen der Krankenhäuser zu sein scheinen: Ihre Körper sind es nicht. Denn gleich hinter den Mauern der Institutionen verschieben sich nicht nur die Wahrnehmungs- sondern auch die Rechtsgrenzen der Gesellschaft. Alles, was Sie über Freiheit, Emanzipation, Selbstbestimmung, Recht und Grundrechte wissen, geben jeden Morgen, meist ab 05:30 – die Dienstzeiten sind übrigens die Zeiten der Stundengebete der Klosterschwestern aus dem Mittelalter –, diejenigen am Eingangstor ab, die die Kranken versorgen. Sie wechseln vom Individuum Frau in eine weiß uniformierte Arbeitsmasse des Liebesdienste, dessen Paradigmen sich die alten weißen Männer der Gesellschaft standhaft weigern, zu verändern. In der weißen Arbeitsmasse scheinen sie eine ungeheure Projektionsfläche ihrer draußen bereits von der Emanzipation hinweggefegten Träume zu finden und kreieren dort nach Lust und Laune ihre Traumpflegerin, wie pubertäre Schmierfinken schlechte Graffiti an Klotüren schmieren. Besonders deutlich wird das in den Zeiten der Pandemie.

Die Verfügungsmasse Pflege setzt sich zusammen aus ihren uniformierten Körpern. Man besteht darauf, sie beim Vornamen zu rufen. Der salbaderte Pseudotitel „Schwester“ soll kaschieren, dass den Frauen nicht zugestanden wird, mit dem gleichen Respekt angesprochen zu werden, wie man jede andere Frau anreden würde, mit der man in einem Dienstleistungsverhältnis steht. Seit 1997 gibt es die Bestrebung, Pflegende beim Nachnamen ansprechen zu lassen. Darauf wird oft mit Empörung reagiert. Hier wird Besitz angezeigt. „Meine Tina!“ hat die gleiche übergriffige Qualität wie „meine Polin“, erzeugt Pseudointimität und garantiert, die erwachsene, gut ausgebildete Frau nicht anhand ihrer Kompetenzen wertschätzen zu müssen. Nachnamen werden meist erst der Pflegedienstleitung zugebilligt. Fernab von der patientennahen Versorgung gilt wieder, was der gute Ton zu bieten hat. 

Diese Pseudointimität erzeugt Nähe, wo keine ist. Diese führt oft zu sexualisierter Gewalt an Pflegenden. Der zumeist männliche Patient, der gar nicht verstehen möchte, dass die junge Frau, die er doch beim Vornamen nennt, keineswegs dazu da ist, soll sich nicht so haben, wenn er ihr an die Brust oder zwischen die Beine fast, sie verbal anzüglich attackiert. Dazu ist sie ja da, höhö. Wer nun glaubt, das Recht springe hier ein, der hat #respectnurses verpasst. Ganz im Gegenteil werden diese Straftaten fast nie angezeigt und im Team sogar heruntergespielt. Framings wie: „Das gehört halt dazu, hab Dich nicht so.“ verweigern gerade jungen Auszubildenden jeden Schutzraum und generieren Scham, befördern Opferumkehr. Auch das hat Tradition. So musste zu Beginn der 1920er Jahre ein Übergriff gemeldet werden – damit die betreffende Schwester, die ganz sicher einen Anlass dazu gegeben hatte, eine Bestrafung kassieren konnte. Eine Broschüre aus heutiger Zeit garantiert, dass es fast nie zu einem Übergriff käme, wenn nur die Pflegende ja in ihrer Rolle bliebe. Auch hier erfolgt Schuldumkehr. 

In der Pandemie ist der pflegende Frauenkörper, wie auch sonst in der Pflege, der mit den besonderen Anforderungen. Er darf keine Ruhe haben müssen, er kann 12 h durcharbeiten ohne zu klagen und kommt mit drei freien Tagen im Monat aus. Man legte die Arbeitszeitgesetze nieder und die Patientenuntergrenzen. Ab da war (mit dem Pflegekörper) alles möglich, zu Gunsten der Gesellschaft. 

Selbstverständlich schluckt das System Gesundheit auch die Kinder der Pflegenden. Während in anderen Gesellschaftsschichten darüber gesprochen wird, dass ein Schulbeginn um 08:00 zu früh sei und gar nicht gut für die Kindesentwicklung, muss der Nachwuchs der Pflegenden um 06:00 in der Kita antreten. Gerade in der Pandemie sind es nun auch die Kinder der Pflegenden, die in neuen Clustern der Notbetreuung zusammengefasst werden, also einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Pflegenden, die fragten, wie sie die öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt umgehen konnten, weil sie Angst hatten, im ÖPNV angesteckt zu werden, antworteten die Grünen keck, dann sollten sie halt das Rad nehmen.  Ein Beruf also, der sich schon lange die innerstädtischen Mieten nicht mehr leisten kann, soll also gegen 05:00 seinen Nachwuchs im Winter aufs Rad wuchten, um pünktlich auf der Arbeit zum Liebesdienst zu sein. Das ist dann auch gleich gut für die Umwelt. Ob es gut ist für die Kinder, ist egal. 

Eine Klinik hing aus, dass Pflegende ihre Kinder in Quarantäne nicht zu Angehörigen geben sollten, die ebenfalls in der Pflege arbeiten. Auf die Idee, dass die Eltern des Kindes selbstverständlich ihr Kind selbst in der Quarantäne betreuen, kam man nicht. Die Versorgung der Bevölkerung gehe vor. 

Auch der Beruf selbst ist Körper. Fürs Händchenhalten dankte Pinar Atalay am 30.12. in den Tagesthemen den Coronahelden. Als hätten gut ausgebildete Pflegefachpersonen 3 Jahre Ausbildung, ein Fachjahr, 5 Jahre Studium durchlaufen, um Händchen zu halten. Das muss diese systemrelevante Arbeit sein, auf die die Gesellschaft nicht verzichten kann. Nicht ein ganzes Arsenal hochkomplexer medizintechnischer Geräte zu bedienen, sondern Händchenhalten. Mehr abwertend geht kaum. Noch nie hingegen hat man in den Tagesthemen davon gehört, dass man den BWLern Uschi und Tina fürs Geldzählen dankte oder der Europapolitikerin Uschi fürs Häppchenessen in Brüssel. Doch bei Pflege geht Abwertung immer klaglos durch.

Klaglos ist überhaupt das Gebot der Stunde. Obwohl wir wissen, dass immer weniger junge Menschen den Pflegeberuf ergreifen wollen, beharren die Imagekampagnen der Politik darauf, dass das ein erfüllender, liebevoller Beruf sei. Von Kompetenz keine Spur. Da werden Schneebälle in Werbefilmchen ans Krankenbett getragen (wozu? Das fragt sich wohl bloß ein Profi) und eine Horde grenzdebiler Versager zeigte uns in Ehrenpflegas, dass Geriatrie einfach mit Alten chillen ist. Arschwischen und Händchenhalten durch liebevolle empathische Frauen. Überhaupt diese Empathie. Jeder weiß, dass in Kliniken nur noch verwahrt wird, die Branche selbst nennt Altenheime Pflegebatterien. Aber der Sprech von der allseits vorhandenen Empathie darf nie fehlen, wenn man an seinem Schwester-Stephanie-Double rumpfuscht. Dass sich dahinter ein Modell aus Empathie/Kongruenz und Authentizität verbirgt, wird allseits auf das Mitfühlen runtergebrochen. Kompetenz egal, Hauptsache mitfühlen. Als ob das beim Liebesdienst am Fließband überhaupt noch möglich wäre. 

Erstaunen ruft in der Pflege hervor, wer sich derzeit nicht impfen lassen möchte. Kein Mensch kam vorher auf den Gedanken, dass die Pflegenden ein Anrecht darauf hätten, die Impfung zu verweigern, solange keine Impfpflicht besteht. Der im Schleudergang der Bürokratie untergehende Aufklärungsvorgang, der oft nur Sekunden dauert, wird oft nicht als Privileg empfunden. Deutlich verstehen nämlich Pflegende, dass es nicht um ihre Gesundheit geht, sondern um Utilitarismus. Arbeitsfähig sollen sie bleiben und allzeit einsetzbar. Wer, das beweist der Gesundheitsreport, seit Jahren zum Beruf mit dem höchsten Krankheitsstand mit Überbelastung im Bereich mental health zählt, der darf natürlich berechtigt fragen, ob man ihn mit dem Hinweis auf Gesundheit verarschen will. Spricht man das Phänomen an, erlebt man im Netz, insbesondere von Laien und – wen wundert es- Ärzten, dass die Empörung hochkocht, die Frauen hätten ein Recht, über ihren Körper selbst zu befinden. Das erinnert schon sehr an die Abtreibungsdebatte. Unprofessionell sei das, urteilte Natalie Grams. Was schon witzig ist, denn seit Jahren werden die Zugangsvoraussetzungen hinabgesetzt, damit noch der Letzte sein Plätzchen in der Pflege finden kann. Mit den geringsten Ausbildungen muss das Unmögliche gestemmt werden, weitab jeder EU-Norm. Und impfen wird nun zum Paradigma für Professionalität erhoben? Das macht dann eine ausgebildete Fachkraft ja so kompetent wie die 90jährige Risikopatientin. Nicht, dass es nicht sinnvoll wäre, sich impfen zu lassen, aber alleine, dass nicht in Betracht gezogen wurde, der pflegende Körper habe an seinem Körper ein Wort mitzusprechen, ist enorm. 

Wer hinterfragt, ob nicht vielleicht ein Trauma aus all dem Konglomerat entstanden sein könnte, der erntet pures Gelächter. Trauma? Sowas haben (artige) Pflegekräfte nicht. Gefälligst. Und wenn, dann seien sie wohl emotional. Was möchte man da sagen? „Ja Du alte Arschkrampe, Menschen sind emotional, wenn man sie jahrelang ausbeutet.“

Pflege, gefangen in den alten Paradigmen der gehorsamen Frau ohne Recht am eigenen Körper, die ihre Kinder der Situation mit ausliefert (denn man hat es sich ja so ausgesucht), hat mit der neuen Generation keine Zukunft. Es sei denn, man nivelliert die Voraussetzungen immer weiter nach unten, bis aus dem Hochleistungsberuf dann endlich nur noch liebevolles Händchenhalten übrig ist. Dafür reicht es allerdings, einen Therapiehund zu engagieren. Der braucht nachweislich auch weniger Pausen und die Welpen können sie auf dem Tiermarkt noch verkaufen. 

Die Emanzipation, deren Themen sexuelle Selbstbestimmung, Frauengesundheit, das Entlarven patriarchaler Mythen und die Kontrolle über das eigene Leben und den Körper war, sie muss stattgefunden haben, als alle Pflegenden gleichzeitig im Dienst gewesen sind. Oder die Mauern der Institutionen waren so hoch, dass sie von ihr unberührt blieben. Der demografische Wandel zeigt: Die Emanzipation muss in die Kliniken, um berufliche Emanzipation zu gewährleisten. Denn eins ist sicher: Wir brauchen Pflege. Patienten gibt es wie Sand am Meer, Pflegende nicht. Es wird Zeit, dass die Gesellschaft sich rührt. 

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