Auf Twitter ist ein Orthopäde etwas Heißem auf der Spur! An einem Sonntag twitterte der selbstbewusst die Neuerfindung der pflegerischen Entlastung und pries sie als quasi milde Großtat am Fußvolk.
„Visite am Sonntag. Kolleginnen [sic!] aus der Pflege haben offensichtlich viel zu tun und sind schlecht besetzt. Ich gehe allein und gebe Bescheid falls was besonderes [sic!] ist. Kollegität [sic! was auch immer das ist] ist keine Einbahnstraße.“
Ja, und nun wussten wir auch nicht. 209 zumeist ärztliche Kollegen „favten“ das, virtueller Jubel breitete sich über den sonntäglichen Helden aus und ließ uns ratlos zurück. Wie war zu handeln? Was schien angemessen? Aufgrund der erfolgten Selbstbeweihräucherung entschlossen wir uns nicht dazu, in Santiago de Compostela das 80kg Weihrauchfass, das einmal im Jahr oder zu besonderen Anlässen rauchend durch die Kathedrale geschwungen wird, schwingen zu lassen. Stattdessen habe ich Fragen.
Der größte Teil pflegerischer Kompetenzen wird erstickt durch überkommene performative Rituale, die den zeitlichen Takt der Organisationseinheiten vorgeben und sowohl Patienten als auch pflegerische Kollegen in ein eisernes Zeitkorsett pressen. Wenn Sie wissen wollen, wer in einem Gesundheitssystem Macht ausübt, beobachten Sie diese Rituale. Visiten sind das beste Beispiel.
Wie die herrscherlicht Adventuszeremonie der Kaiser in Rom wird nahezu täglich der Advents der Ärzte zelebriert. An hohen Feiertagen betreten Chef- und Oberarzt die Szenerie. Alles wird stehen- und liegengelassen. Weil die Damen und Herren pünktlich um spätestens 08:00 in den Sälen starten, geht die Veranstaltung meist kurz nach der Morgenrunde los, weshalb das Frühstück dann oft warten muss. Ja, das der Patienten. Im Gänsemarsch der medizinischen Ränge folgen dem Herrscher, dessen Baldachin sich im Kurvenwagen manifestiert, die Assistenten, die Stationsleitung, die Pflegenden und dann die Schüler. Wie ein glitzernder Kometenschweif der aufgehenden herrlichen Sonne glitzern die kleinen Sternchen dem Zentrum des Universums hinterher.
In der guten alten Zeit, und die ist keine 15 Jahre her, wurden dem Chef zu dieser Angelegenheit noch Süppchen, verdeckt mit gestärkten Servietten gereicht. Denn der Gute musste ja etwas essen. Auch das Anreichen von Kaffee, und vor der Einführung des Nichtrauchens auch das Halten des Aschenbechers, waren dem Mundschenk in Ausübung seines Hofdienstes vorbehalten. Dieser war zumeist die Oberschwester. Was für eine unfassbare Ehre. Als nahezu respektlos und unerhört galt es, zu reden, zu fragen oder Probleme mitzuteilen, wenn man nicht in den edlen Kreis aufgenommen war. Gönnerhaft urteilte der Retter der Welt dann über Entlassdaten und Verweildauer, über Untersuchungen und Diagnostik. Den ganzen administrativen Kram durfte dann natürlich, nach Beendigung der performativen Szene, die Pflege ausarbeiten – und darf es noch heute.
Kein Mensch hat je ergründet, weshalb es erwachsenen Menschen aus medizinischen Berufen nicht gelingen sollte, ihre Klebchen selbst auf einen Röntgenschein zu kleben und Untersuchungen und Konsile zu beantragen. Dafür werden noch heute Stationssekretärinnen eingestellt. Denn, löllerchen, die haben ja so viel zu tun. Daran änderte auch die Einführung der Digitalisierung nichts. Tonnenweise Anordnungen, Extrablutabnahmen, Untersuchungsscheine. Alles ganz wichtig. Absurderweise mussten die dann wieder zurück zum Arzt, denn das Ganze benötigte ja noch eine Unterschrift. Und der rennt man häufig hinterher. Besonders, wenn sie eben total extra ist und Pflege das auf Papier beantragen muss, die Anordnung im PC nicht selbst freigeben kann. Es kam schon zu schweren Identitätskrisen, weil ärztliche Kollegen Klebchen selbst ausdrucken mussten. Für Untersuchungen, die sie selbst wollten, wohlgemerkt.
Vor 30 Jahren sollte der Irrsinn dann ein Ende haben. Die Pflegemappen wurden eingeführt und eine Reihe bunter Reiter ermöglichte die Kommunikation zwischen Arzt und Pflege.
Das eröffnete neue Machtspielchen. Der zumeist schwarze Reiter war der Reiter aus der Hölle, weil nun andauernd auch außerhalb der Reihe Anordnungen getroffen werden konnten. Kaum hatte man die Klebchen und Anordnungen fertig, blinkte schon wieder die Reihe in schwarz. „Ooopsidaisy, hab ich vergessen!“ Wer darunter litt? Patienten. Um die Situationen zu befrieden, ging die Hiearchiepolonaise weiter. Die Altherren brauchten ihr Süppchen.
Nach der Visite richtete sich alles aus. Patienten artig ins Bett (Kind! Wie sieht das hier aus? Wenn nun der CHEF kommt!), Patienten konnten nicht gewaschen werden, weil man vermutete, dass der Arzt noch auf den Verband gucken wollte. Frische Verbände wurden und werden wieder abgeprökelt, weil nun doch jemand draufgucken will. Nein, das digitale Bild reicht da nicht. Medizin ist ja mit allen Sinnen, nicht? Hahaha. Und keinesfalls kommt dann der Verband gleich wieder dran, denn die Performanz muss zu Ende getanzt werden. „Komme gleich wieder!“ seufzen noch heute Pflegende, wenn sie notdürftig Lagen auf Wunden legen und keine Ahnung haben, wann sie diese Arbeit noch schaffen sollen. Auch beliebt: Einzelvisite. „Ich habe mir das mal angeguckt. Musst Du neu verbinden!“ Wann und warum il Dottore das nicht selbst kann? Niemand hat es je ergründet.
Dann wurden Pflegevisiten eingeführt. Wer da kam? Niemand. Meist nicht einmal Pflege selbst, denn dafür war keine Zeit.
Der einzige Tag, an dem dann wirklich Zeit ist, ist der Sonntag. Sonntags ist wie der Sonntag im Hause Dursley von Harry Potter: keine blöden Briefe! Am Sonntag keine OPs, keine Diagnostik. Endlich Zeit, um auch dem Patienten mal die Haare zu waschen, der bereits um den Kopf aussieht wie Snape. Und: keine Visiten mit Performanz. Eine gute Sonntagsvisite läuft so:
„Is was?“
„Nee!“
„Ok, danke, tschüss!“
Aber was ist denn mit der interprofessionellen Kommunikation? Ja, das ist eine berechtigte Frage. Berichte von Ärzten beklagen, dass pro Patient lediglich ca. 1 Minute zur Verfügung steht. In dieser Zeit ist für mehr als gehetzte Absprachen eh keine Zeit. Alles, was wirklich zu klären ist, spielt sich mit den Reitern oder zwischen Stationsarzt und Pflege ab. Visite ist Absicherung, ist Performanz. Wirkung hat sie nicht mehr.
Wenn nun also jemand das Normale tut und Sonntags seinem Team mit dem Wunsch nach persönlicher Glitzerperformanz nicht den Dienst zerhackt, dann ist das normal. Es ist auch nicht so, dass die pflegerischen Kollegen sich dann im Liegestuhl zurücklehnen und die abgelaufenen Hacken bei einer Pina Colada wieder nachwachsen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Die arbeiten IHRE Arbeit. Die besteht darin, Patienten zu pflegen. Es ist also keine Großtat, Pflege pflegen zu lassen. Es ist nur so, dass die Behandlungspflege einen hierarchischen Mehrwert haben soll, der sich in Nichts begründen lässt. Aus der Sicht ist Pflege dann nur Arztassistenz.
Immer, wenn man es umdreht und es klingt absurd, ist es absurd.
Drehen wir das mal um.
Was passiert, wenn ich tweete:
„Sonntags. Die Ärzte sind heute schlecht besetzt. Habe dann mal alle Patienten alleine gewaschen und gelagert und ihnen zu essen und trinken gebracht, ohne Ärzte. Bin dann zur Pflegevisite aufgebrochen. Kollegialität ist keine Einbahnstraße!“
Merkt Ihr selbst, oder?