Pflege und Corona. Warum man so mit Pflege umgeht. Ein Erklärungsversuch

Viele haben sich gefragt, weshalb unter Corona solch merkwürdige Dinge, wie das Aussetzen der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber funktioniert und weshalb man mit Pflege so umgeht. 

Zugang zum Schutz nur mit Erlaubnis. Foto: J. La.

Manche haben gefordert, Pflege solle sich wehren. Doch worüber reden wir hier überhaupt? Wer ist sie, diese ominöse Pflege, die gerade so mies behandelt wird, wie vielleicht noch nie?

Wer ist Pflege, was ist Pflege? Eine Identitätssuche im Dschungel 

Es ist eine Frage, die Generationen Erstsemester verwirrte und bis heute nicht abschließend beantwortet werden kann: Wenn wir über Pflege reden, über wen reden wir da eigentlich? Die Antwort ist nicht leicht zu geben. Pflege, das sind in erster Linie Menschen, die sich entschieden haben, anderen Menschen in Krankheit zu helfen und ihnen – in welcher Art und Weise auch immer, das wird später wichtig – beizustehen. Oft wird dabei gerade von Außenstehenden die Frage gestellt, weshalb „die Pflege“ nicht streikt, sich nicht organisiert (ungefähr 5% aller beruflich Pflegenden sollen Mitglied einer Gewerkschaft sein). Dahinter verbirgt sich die Vermutung einer Schuld. Die Missstände, die seit Dekaden seitens der Pflege beklagt werden, an ihnen sollen Pflegende eine gewisse Mitschuld tragen. Weil sie nicht organisiert sind, weil sie (angeblich) nicht streiken, weil sie offenbar untätig dabei zuschauen, wie unter ihren eigenen Umständen Menschen, aber doch auch sie selber leiden. 

            Stellen wir uns Gewerkschaften, Berufsverbände, Kammern und berufspolitische Interessengruppen wie einen Schirm vor, dann müssten wir also von einem Schirm sprechen, unter dem sich alle Personen aus „der Pflege“ versammeln und die ihre Identität, ihr Selbstverständnis und ihr Selbstbild vereint. Doch dieser Schirm kann nicht existieren, denn darunter fänden wir nicht eine homogene Gruppe Menschen, sondern ganz im Gegenteil, sind pflegerische Identitäten so unterschiedlich, wie die Individuen, die sich ihnen selbst zuschreiben. Wer also ist Pflege? Schon die Berufsbezeichnungen trennen die eigentlich selben Berufe dabei – wenngleich ungewollte – nach Generationen. Krankenschwestern und -pfleger, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen und – seit Januar 2020 – Pflegefachfrauen- und männer. Sie alle sind diejenigen, die unter dem gleichen Beruf firmieren, der in den letzten Jahren umbenannt wurde, um der Profession Pflege ein neues Label zu geben. Doch das Label verfehlt und zerschellt an der praktischen Unmöglichkeit, es in der Gesellschaft zu einem Durchdringungsgrad zu bringen. Wer pflegt und noch dazu weiblich ist, wird Schwester genannt. Wer pflegt, und noch dazu männlich ist, wird Pfleger genannt. Gerne noch dazu beim Vornamen. Seit Dekaden versucht die Profession, die professionelle Idee einer Krankenpflege nach vorne zu treiben, indem sie ihre Mitarbeiter beim Nachnamen nennen lässt. Und warum auch nicht? Doch dagegen wehrt sich nicht nur derjenige, der die Klinik als Patient betritt. Nicht zumutbar sei es, dass die Schwester beim Nachnamen genannt würde. Das könne man sich nicht merken. Das sei zu ungewohnt. Alte Leute könnten sich das Neue gar nicht merken. Die Debatte geht nun über zwanzig Jahre und mittlerweile sind nun die Best-Ager, die noch gut die Chance gehabt hätten, das Neue kennenzulernen und zu internalisieren, auch schon siebzig Jahre alt. 

Doch nicht allein von Patienten geht diese Verweigerung aus. Das hierarchisch geprägte System Klinik unterscheidet in den unteren Hierarchien streng nach den Dingen, die die Klinikwelt tatsächlich bewegen und der Begriff Schwester wird oftmals mit dem Erreichen eines Titels verglichen, der sich erst ergibt, wenn die harten Lehrjahre, die keine Herrenjahre sind, mit einem Staatsexamen abgeschlossen wurden. Um den vermeintlichen Titel gebracht wissen möchte sich nicht jeder. Mit der Debatte, ob Vorname oder Nachname, können Sie jederzeit jedes Pflegeforum quasi explodieren lassen. So bleibt sie, die „Schwester“, die keine ist. Und schon haben wir die ersten Unterschiede. Es gibt also verschiedene Berufsbezeichnungen für das Gleiche, Ausgebildete und Unausgebildete, es gibt Männer, es gibt Frauen.

            Nach der Ausbildung gehen alle unterschiedliche Wege. Glauben Sie nicht, dass eine Pflegefachfrau auf der Inneren sich unbedingt einer Kollegin, mit der sie vor Wochen noch im selben Kurs gesessen hat, auf der Chirurgie verbunden fühlt. Es gibt den Funktionsbereich der Intensivstationen, der sich ebenfalls gerne für etwas anders hält, als alle anderen. Und es gibt die OP-Teams, die schon aus Hygienegründen räumlich keinen Kontakt mit den Kollegen im Haus haben. Die Schleuse, an der die Patienten vom Normalbereich in den OP-Bereich übernommen werden, ist nicht nur eine Schleuse der Hygiene: Dahinter beginnt eine andere Welt. Diese Welt teilen sich diejenigen, die mit am OP-Tisch stehen mit denjenigen, die beim Operieren mit den Narkoseärzten arbeiten.

            Jeder dieser Mikrokosmen hat eigene Führungspersonen, Stationsleitungen, Pflegedienstleitungen und Direktoren. Und nicht nur das. Nach einer gewissen Zeit absolvieren viele noch ein zusätzliches Weiterbildungsjahr in ihrem Bereich. Es gibt Onkologiefachpflege, Leitungsfachpflege, Intensiv-und Anästhesiefachpflege, Notaufnahmefachpflege. Der Bereich ist schwer zu überschaubar und dazu kommen noch diejenigen mit eigenen Verantwortungsbereichen, die sich von Ausbildungsmentoren und – anleiterinnen bis hin zu Hygienebeauftragten erstrecken. Und es gibt über fünfzig Studiengänge in der Pflege, von denen Ihnen aber „die Pflege“ zumeist antworten würde, dass die ganz gewiss nicht zur Pflege gehören, während gerade die akademisierte Pflege sich der Basis der Pflege besonders verbunden fühlt – und die Zurückweisung weder versteht, noch akzeptieren kann, denn von denjenigen wird erwartet, dass sie die Profession entwickeln, organisieren und auch Leitlinien erarbeiten, anhand derer die anderen sich orientieren können. „Am Bett“ und „nicht am Bett“ stehend ist ein Prädikat.

            Es gibt die, die die Klinik verlassen und in der ambulanten Pflege arbeiten. Die die in der Psychiatrie arbeiten. Es gibt, oder gab, speziell ausgebildete Kindergesundheits- und Krankenpfleger*innen. Dazu kommt der Teil der Altenpfleger*innen mit ihren eigenen Schülern, die zumeist nicht einmal für ihre Ausbildung bezahlt werden, sondern die sogar noch bezahlen. Es gibt Einjährige, die eine alte Ausbildung als Pflegehelfer absolviert haben und natürlich auch Pflegehelfer, deren Ausbildung sich nur über Monate erstreckte. All diese Menschen bilden Pflege, haben unterschiedliche Identitäten und fühlen sich mehr oder weniger einem eigenen Teil einer Gruppe zugehörig, die mit den jeweils anderen nur am Rande Schnittmengen hat.

            Dass hingegen Menschen zumeist ohne jede Ausbildung annähernd das Gleiche leisten könnten wie all die oben genannten Profis, behauptet die Politik gerne und nennt pflegende Angehörige „den größten Pflegedienst des Landes“. Auch diejenigen fühlen sich der Pflege zugehörig. Begründet wurde dieses Selbstverständnis durch Norbert Blüm, der dereinst, natürlich als außenstehender Mann, der nie gepflegt hatte, aussagte: „Pflege kann jeder!“. Doch damit wurde die ganze, speziell ausgebildete Berufsgruppe auf Jahre abgewertet, denn es kann nicht in Frage gestellt werden, dass diejenigen, die drei bis vier Jahre ausgebildet wurden und täglich verschiedenste Ausprägungen von Krankheiten sehen, sehr viel kompetenter sind als die, die implizit etwas tun, was sie für Pflege halten. Eine Abgrenzung der professionellen Pflege wird insbesondere von dieser Gruppe nicht zugelassen und vehement bekämpft. Auch damit können Sie Internetplattformen zum Glühen bringen. 

            Wenn sich der, der niemals Pflege gelernt hat, zutraut, das Gleiche zu können, wie der, der jahrelang dafür gelernt hat und viele Jahre praktische Erfahrung erlangte, ergeben sich daraus zwei Effekte: der Ungelernte wird aufgewertet, der Gelernte wird abgewertet. Pflege, so das oft zu hörende Argument, sei gar kein Beruf, er sei Berufung. Doch Berufung ist keine Ausbildung, es ist eine Motivation. Die Motivation, aus einer inneren Überzeugung einem Beruf nachzugehen, der von vornherein verspricht, wichtig und wertvoll zu sein. Ein Beruf, der mit Menschen zu tun hat, der als erfüllend empfunden wird und der keinesfalls eine stupide Arbeit beinhaltet. 

            Da kollidieren die beiden Pole Gelernt und Ungelernt und aus der Frage, wer Pflege ist, wird eine Kampfzone um die Deutungshoheit, was Pflege ist. 

            Professionelle Pflege ist dann am Besten geleistet worden, wenn der, der pflegt, mit den Händen in den Hosentaschen am Bettende stehen kann und muss nichts tun. Das bedeutet nämlich, dass der Patient seine Angelegenheiten alleine regeln kann. Und bis dahin war es oft ein weiter Weg.  Doch der beinhaltet nicht alleine Arbeit der Pflegenden, sondern auch die der Patienten. Und da geht der Struggle los. 

            Für Ungelernte, die nicht nach wissenschaftlichen Methoden pflegen, bedeutet Pflege zumeist, dem Kranken alles zu liefern, was dieser möchte. Pflege wird zum Dienen. Und wer kann sich das nicht vorstellen: Im Bett liegen, sich Wünsche mit einer Klingel erfüllen und es „sich mal so richtig gut gehen“ zu lassen. Dass Pflege, die den Anspruch hat, den Patienten zu mobilisieren, damit nicht einverstanden sein KANN, führt oft zu Konflikten. Konflikte zwischen Patienten, Angehörigen, Pflege, Schichten (weil, wenn nicht, dann nicht, versus doch, das muss jetzt erledigt werden). Wer diese Wünsche erfüllt und sich dem emotional-stationär-gesellschaftlichem Druck beugt, ist eine „liebe Schwester“. Diejenigen, die ihren Beruf ausüben, gelten als Besen und rabiat. So schlimm kann das alles ja nicht sein, den Pflege ist irgendwas mit Waschen. Sagt man. 

            Pflege definiert sich also gar nicht selbst, sondern ist Projektionsfläche der Wünsche und Träume von Menschen außerhalb des Berufes. Und das ist ein riesiges Problem, denn auf dieses Wunschbild von Pflege lässt sich vieles projizieren. Demut, lieb sein, gehorchen, lächeln, Wünsche erfüllen, die auch zu sexuellen Übergriffen führen können. Eine Opferbereitschaft wird gefordert, die liebe Schwester opfert dabei ihre Freizeit beim Einspringen, ihre Gesundheit, weil sie ihre Work-Life-Balance nicht mehr halten kann und letztlich erkrankt. 

Der Clash zwischen dem, weshalb Pflege gelernt wird und dem, was durch Außen und durch Strukturprobleme, wie Untersetzung letztlich draus gemacht wird, ist dermaßen groß, dass eine letzte Gruppe Pflege sich eröffnet: die Pflexiter. Die, die den Beruf verlassen haben. Nicht, ohne sich noch jahrelang umzuschauen, ob des irren Alptraums.

            Pflege soll sich also organisieren und ein Problem lösen, dass es gar nicht gäbe, wenn die Gesellschaft begriffen hätte, was Pflege ist und was ihr nicht zusteht: einen Beruf von außen so stark durch die Projektion einer nicht zeitgemäßen Zuschreibung zu deformieren, dass er nicht mehr mit dem Beruf selbst übereinstimmt.

Pflege, das sind die, die „uns versorgen MÜSSEN“ und zwar so, wie Fremde bestimmen, dass sie es gerne hätten. Über Pflege kann verfügt werden. In Krisensituationen kann man mit ihr umgehen, wie man möchte. Da werden flugs Empfehlungen außer Kraft gesetzt und natürlich wird eine persönliche körperliche Opferbereitschaft gefordert. Dass die keinesfalls natürlich ist, sondern nur einer irren Idee entspringt, stört dabei keinen.

Die Politik geht soweit zu wissen, was Pflege entlastet. Eine 35 Stundenwoche würde die doch entlasten, titelten heute die Grünen. Dass man auch bei 35 Stunden in der Woche noch lange nicht darüber geredet hat, dass Pflege in diesen 35 Stunden nicht ausüben kann, was sie gelernt hat, das ist dabei nicht Thema. Da sitzen Fremde und erklären, was sie erwarten, dass Pflege will, wie sie es will. Und das seit Anbeginn der Bundesrepublik. 

            Pflege ist ein Frauenberuf, bzw. ein Beruf, in dem überwiegen (86%) Frauen arbeiten. Dass hier von außen also Frauen gesilenced werden, ihnen das Mitbestimmungsrecht entzogen wird, das macht den Beruf zur letzten Bastion des Antifeminismus. Hier ist die Welt des alten weißes Mannes noch in Ordnung, hier kann er sich austoben und bestimmen. Hier wird gehorcht, hier war das schon immer so und hier soll sich, um Himmels Willen, nichts ändern.

Wer sich wehrt, der wird zur Megäre erklärt oder zur Amazone. Und, das hat die Antike gelehrt, nur tote Amazonen waren gute Amazonen. Selbstbestimmung von Frauen, das Eindringen in den uralten Bestimmungsbereich Mann, das war das Schlimmste, was sich der Mann der Antike vorstellen konnte. Und genauso handhaben es die, die über diese Berufsgruppe bestimmen, noch heute. 

5 Kommentare zu „Pflege und Corona. Warum man so mit Pflege umgeht. Ein Erklärungsversuch

  1. Das finde ich mal einen guten Artikel. Bravo!!!
    Vor allem deckt er nicht nur die Unwissenheit mancher Leute in Gesellschaft und Politik über den Beruf auf, sondern macht auch deutlich, dass die Pflegefachkräfte sich untereinander nicht grün sind und man sich anscheinend je nach Stationszugehörigkeit für was Besseres hält.
    Das ist echt schade und treibt einen Keil zwischen diese „Berufsschicht“.
    Momentan ist ein gegenseitiges Gehetze spürbar und für mich nicht immer nachvollziehbar!
    Pflegefachkräfte sind keine Bediensteten! Sollte jedem klar sein, dachte ich zumindest! Aber es werden immer alle über einen Kamm geschert. Doch so auch andersrum: Nicht jeder, der dieser Tage auf dem Balkon steht und klatscht, missachtet die Kontaktverbote, sondern zollt den Menschen Respekt! Einige können dies jedoch nicht annehmen und äußern sich undankbar darüber, wie jüngst eine Berliner Kollegin. Muss das sein? Die Leute können nichts für die schlechten Arbeitsbedingungen oder gar Gehaltshöhe! Im Gegenteil, sie wissen, wie mies es in unserem Gesundheitssystem aussieht und zollen deshalb Respekt! Natürlich gibt es sicher auch Ausnahmen, wie überall, die es einfach nur nachmachen.
    Dann die Menschen, die Angehörige selbst pflegen. Auch darunter gibt es sehr viele, die wissen, wie anstrengend die Ausübung der „professionellen Pflege“ ist, weil sie auch ihre Angehörigen dazu anregen, weitmöglichst wieder etwas alleine oder besser machen zu können. Das bei Angehörigen jedoch auch stark Emotionen mitspielen und man dann doch mal, aus Mitleid oder Ungeduld, in die Rolle eines „Dieners“ rutscht, ist doch auch nachvollziehbar, oder?!
    Ausgenommen ist davon natürlich die Kurzzeitpflege eines an „Männerschnupfen“ erkrankten Lebenspartners! 😉

    Ein bisschen mehr Verständnis auf allen Seiten wäre wünschenswert.

    Ihnen alles Gute!

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