„Wir waren keine richtige Familie!“ – Kinder von Pflegenden leiden mit

Vom ersten Weihnachtsfest meines Ältesten kenne ich nur Bilder. Es fand ohne mich statt. Aus Kostengründen und Erziehungsgründen. Denn ich war Schwesternschülerin und damit billig verfügbar an Vorfeiertagen, Feiertagen und überhaupt und hatte überdies zu lernen, dass der Beruf kein Zuckerschlecken war. Punkt! Mein Kleinkind lernte das somit gleich auch.

Als ich 10 Jahre Alleinerziehende mit mittlerweile 3 Kindern war, geriet der Beruf zur Organisationshölle. Wollte ich sicherstellen, dass die Kurzen morgens etwas essen, mussten sie um 05:00 spätestens raus, wollte ich ihnen das ersparen, konnte es eng mit ihrem Zeitmanagement werden, sofern Kinder überhaupt über so etwas verfügen. Vielleicht war es einfach Glück. Ab dieser Zeit weigerte ich mich strikt, Heiligabend zu arbeiten. Ich kenne dafür keine Silvesterfeiern und komme mir noch heute verloren vor, diesen Abend zu begehen.

Während Menschen im Bürojob darüber diskutieren, dass der Schulbeginn um 08:00 für Kinder viel zu früh ist, stehen Kinder von Pflegenden oft als Erste um 06:00 vor der Kita oder dem Hort, falls ihre Eltern glücklich geplant sind und um 06:30 anfangen dürfen. Die mittelalterlichen Zeiten der Stundengebete regeln noch immer den Schichtdienst in Hochleistungskliniken. Sie greifen ein in den kindlichen Biotagesablauf (von Rhythmus zu sprechen, kommt mir absurd vor, der wäre regelmäßig) und weit darüber hinaus.

Früher war es einfacher. Als heiraten im Pflegeberuf nicht mehr verboten war, untersagten Arbeiten einfach Männer. Punkt. Doch die Rückständigkeit der Gesundheitsbranche macht sich eben auch im Umgang mit arbeitenden Eltern bemerkbar. Die Branche stellt (angeblich) das Wohl der Patienten an die erste Stelle. Die soziale Rolle als Eltern fällt runter. Selbst im Frei muss stets und ständig damit gerechnet werden, dass die Privatzeit mit den Kindern unterbrochen wird, weil die Frage aufkommt „ob man nicht eben mal einspringen kann“. Das schlechte Gewissen darf man sich aussuchen. Entweder man hat es, weil man das Team alleine lässt oder die eigenen Kinder. Die jedoch sehen einen sowieso nur an allerhöchstens 2 von 4 Wochenende, an unendlich vielen Abenden und am Morgen nicht. Qualitytime ist so nicht zu machen.

In der ersten Welle der Coronapandemie, als die Frage nach Notbetreuung aufkam, schrieb jemand, Schwestern sollten sich halt keine „Blagen anschaffen, wenn die stören“. Nein, es sind nicht unsere Kinder, die uns stören, die gehören zu uns. Es seid Ihr Fremden, die an unsren freien Tagen versorgt werden wollt, die Ihr Euch nie darum geschert habt, was Einspringen bedeutet.

Auf Facebook habe ich gefragt, ob diese Situation jemand beschreiben kann. Und es meldeten sich leider nur 2 Menschen. Eine schreibt, dass es sie als Kind zerrissen habe. Immer dieses schlechte Gewissen, die Mama zu stören, die müde nach dem Nachtdienst war oder völlig fertig nach dem Frühdienst. Dass es ihr so leid getan habe, sie wecken zu müssen und dass sie sich verloren gefühlt habe. „Ich habe mich als Tochter oft schlecht gefühlt, wenn ich den Feierabend oder den Schlaf meiner Mutter unterbrochen oder gestört habe. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie von der Arbeit kaputt und ausgelaugt nach Hause kam.“

Eine Kollegin schreibt mir, dass sie den Beruf verlassen habe. „.. den treffendsten Satz hatte meine damals 10 jährige Tochter. .. „Dann sind wir jetzt wie eine echte Familie und Ihr habt auch mal am Wochenende Zeit für uns?“ Das tat schon weh! Einer von uns hatte immer Dienst.“

Dem gegenüber steht das gebetsmühlenartig „Das habt Ihr Euch doch so ausgesucht!“ der Gesellschaft und ich frage mich oft, in wieweit 17 jährige Menschen überhaupt den Spagat zwischen den beiden sozialen Rollen Eltern und Berufstätige schon absehen können. Denn nein, traurige Kinderaugen, das Gefühl zu stören und Belastung zu sein, habe ich mir persönlich als Mutter nicht für meine Kinder ausgesucht, als ich in die Pflege ging. Es wird uns aber als Selbstverständlichkeit verkauft.

Unzählig die geschwisterliche Eifersucht bei den Meinen, wenn ich aus Glück frei am Tag des Elternabends des einen hatte (den Abend dann aber nicht mit den Kindern verbringen konnte) und beim anderen nicht.

Nein, es gibt keine oder kaum Schichtkitas und als Alleinerziehende bist Du komplett verloren. Als Eltern musst Du Dein Kind in das Betreuungskarussel stecken, zu unmöglichen Zeiten bringen und abholen. Dann hast Du um 23:00 ein Schulkind im Auto, das sich dann logischerweise weniger gut in der Schule konzentrieren kann. Bei Pflege läuft die Bildungsbenachteiligung also von Anfang an mit. Zum Wohle der Gesellschaft. Das sind keine modernen Bedingungen für einen Beruf und die Arbeitgeber entziehen sich der Problematik vollends.

Nächstenliebe nennen Politiker den Beruf. Und machen so deutlich, dass der Beruf keiner ist. Die Selbstausbeutung und Selbstaufopferung, die von Pflegenden verlangt wird, geht über ihr Selbstopfer hinaus. Die Kinder der Pflegenden liegen mit auf dem Altar der Gesundheitsindustrie, die nach Moral ruft, wo sie selber keine kennt. Die Probleme, die das aufwirft, sollen Pflegende selbst lösen. Alle daraus resultierenden Probleme, wie Berufsflucht und Interaktionsproblematiken, werden vertagt. Was soll das für ein Beruf sein, der mich zum unmoralischen Dämon erhebt, wenn ich mich weigere, das Wohl meiner Kinder für das Wohl fremder Menschen zu opfern? Wo bleiben die Lösungsansätze?

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2 Kommentare zu „„Wir waren keine richtige Familie!“ – Kinder von Pflegenden leiden mit

  1. Sehr schön geschrieben und es erinnert mich an Passagen in meinem Werdegang auch wenn ich total in einem anderen Beruf unterwegs war.

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  2. Pingback: Anderswo – Die gnädige Frau wundert sich

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