Young carers -Kinderarbeit mitten in Deutschland – und die Politik findet es ganz, ganz toll

Text @Donnarabiata

Vor einigen Wochen wurde ich auf Twitter mit folgender Tatsache konfrontiert: Zum „größten Pflegedienst Deutschlands“ gehören Kinder und Jugendliche, die ihre Angehörigen pflegen und nebenbei Haushalt und Schule schmeißen. Ich glaub, mein Schwein pfeift! 

Diese Kinder, die so viel Verantwortung übernehmen (müssen), nennen sich nach britischem Vorbild „Young Carer“. Alleine in Deutschland sind das ca. 480 000 (JA, fast eine halbe MILLION, Herrgottscheiße) Minderjährige, die in einem Umfang von mindestens 20 Wochenstunden ihre Angehörigen Pflegen und Versorgen. 

Und wir reden hier nicht von der 7-jährigen Enkelin, die samstags für ihre Oma ein bisschen Milch und Brot einkauft, weil sie schon groß genug ist und zeigen möchte, dass sie Verantwortung übernehmen kann. Nein, wir sprechen hier von Kindern und Jugendlichen, die knallharte Pflegetätigkeiten übernehmen, wie sie in SGB V und SGB XI für professionelle Pflege bzw. berufliche Pflegehelfer definiert sind.

Um an dieser Stelle mal bei den Lesern einzuspringen, die gerade mit geschwollenen Klötzen einen Kommentar bezüglich normaler Familientätigkeiten in die Kommentare rotzen möchten: 

 Von Haushaltsarbeiten, wie sie jedes Kind und jeder Jugendliche übernehmen sollte, um sich zu einem reifen und verantwortungsvollen Erwachsenen entwickeln zu können, kann man schon alleine bei diesem Stundenumfang nicht mehr sprechen. 20 Wochenstunden als Minimum bedeutet konkret, das etwa 5% aller Kinder und Teenis, die sich eigentlich damit beschäftigen sollten, welche Spielzeuge sie sich zum nächsten Geburtstag wünschen, oder ob der süße Mitschüler aus der Nachbarklasse einen evtl. auch gut findet, neben der Schule noch einen Halbtagsjob wuppen (müssen), der weder physisch noch psychisch auch nur annähernd altersgerecht genannt werden kann. 

Sie ARBEITEN und das, obwohl es ihnen qua Jugendschutzgesetz verboten ist!!! Der familiäre Kontext und die damit verbundene emotionale Abhängigkeit und Loyalität gegenüber der Familie machen es möglich.  Es ist halt „Familienangelegenheit“. Dass die zu Pflegenden einen Anspruch darauf haben, professionell gepflegt zu werden, ändert nichts daran, dass dieser Anspruch in manchen Gegenden, auch vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Pflegenotstandes, nicht geltend gemacht werden kann oder nicht geltend gemacht wird. Toxische Familienkonstellationen und/oder Suchterkrankungen bei denen im Vordergrund steht, diese möglichst zu verheimlichen, machen Hilfe praktisch unmöglich, obwohl es sich bei einem Anteil von ca. 5% um einen erheblichen Anteil der Kinder und Jugendlichen handelt, auch wenn einige sagen, dass sie diese Arbeit gerne machen.

 5% hört sich erst einmal nicht viel an, ist aber – politisch gesehen, die magische Grenze, ab der man mitregieren kann, wenn man diesen Anteil an Wählerstimmen erreicht. Ja ja, der Vergleich hinkt ein bisschen, weil Kinder und Jugendliche praktischerweise nun mal nicht wählen dürfen und auch keine Partei sind, weshalb sie wenig bis keinen Druck aufbauen können. Es geht jetzt aber darum, dass diese Zahl – 480 000 bzw. 5% eine gesellschaftliche Relevanz hat. Auch mit Blick auf den Pflegenotstand- schließlich bedeutet 480 000 x 20 Std./Woche Minimum, dass hier von Minderjährigen 240 000 Vollzeitstellen Pflege MINIMUM abgedeckt werden. Praktischerweise auch noch Gratis und obendrein unsichtbar, denn es wird von ca. 180 000 fehlenden Pflegekräften gesprochen.  

Diese 480 000 Kinder und Jugendlichen, die unentgeltlich und praktisch unsichtbar für die Öffentlichkeit um eine unbeschwerte Kindheit gebracht werden, sind der Politik indes wohlbekannt. Auf der Seite Young-carers.de kann man sich selbst davon überzeugen. Politiker über Politiker überschlagen sich förmlich dabei, den Kindern zu bescheinigen, dass „man“ etwas tun müsste und sie das alles ganz ganz toll machen. Immer abwechselnd mit Erfahrungsberichten von Kindern, die einem beim Lesen schon das Herz brechen. Lesen Sie es selbst nach: young-carers.de Persönlich dafür zuständig fühlt sich von der Regierung indes niemand. Einige lassen sich zwar dazu herab, wenigstens nicht im Konjunktiv zuschreiben, sprechen aber immer nur von Unterstützung.

Keine einzige der Altparteien hat die Young Carer in ihrem Parteiprogramm stehen. Obwohl aus allen Parteien von MdL bis MdB das who is who ihre pseudoempathischen Textbausteine in die Kommentare w….

Diese, aus meiner Sicht, wischiwaschi geseierte Kackscheisse seitens der Politiker gipfelt in der Gründung der Seite „Pausentaste“ auf der die Politik ihre Untätigkeit mit viel Herziherzi tarnt, indem sie eine Plattform geschaffen hat, auf der betroffene Hilfe finden sollen. Bei genauerem Hinschauen erkennt man jedoch schnell, dass diese Seite als eine Art Sammelbecken für Hilfsangebote dient, die in aller Regel aus Spenden finanziert werden und sich – im Moment noch zwangsläufig, eher um Gesprächsangebote drehen, obwohl Young Carer FREI brauchen, schon alleine, damit sie unbelastet zur Schule gehen können. MP über MP salbadert davon, dass wir die Schulen ganz dringend öffnen müssen, weil sonst eine ganze Generation vor die Hunde geht und keine Chance hat, ihr volles Potential zum Wohle der deutschen Zukunft zu entfalten, aber bei einer halben Million young Carer ist das plötzlich egal. Egal, ob sie selbst krank werden, egal, ob sie ihr Potential entfalten, egal, ob sie vor die Hunde gehen. Das Foto mit Jana (Gründerin der Young Carer) ist gemacht, das Lob im Internet verhallt, vielen Dank, der nächste Bitte.  

Einer Regierung würdig wäre ja imho, würde sie sich ehrlich machen und das Problem auch öffentlich benennen, indem sie die Young Carer in allen Zahlen und Statistiken explizit als solche nennt, Maßnahmen zu ihrem Schutz erarbeitet und ausnahmsweise mal selbst als Lobbyist tätig wird, indem sie den Anbietern für Pflege davon erzählt, dass da weitere so ca. 480 000 Pflegebedürftige zu versorgen sind, weil Kinder NICHT ARBEITEN DÜRFEN! Unpraktischerweise würde das aber eine Menge Geld kosten und Kinderarbeit in der Familie ist nicht so wichtig wie die Lufthansa, denn die Kinder mucken ja nicht und dürfen nicht wählen. Außerdem ist Wahljahr und Pflegenotstand und Kinderarbeit finden die meisten Menschen genauso widerlich, wie sie ist. Also demonstriert man empathische Machtlosigkeit, die sich erstaunlicherweise umgekehrt proportional zum Aufstieg in der Regierungshierarchie zu verhalten scheint. Verrückt. 

Übrigens hat sich das ZQP ebenfalls mit dieser Problematik beschäftigt und in einem 116 Seiten Report zusammengefasst und damit klargestellt, dass Young Carer Pflegearbeit im Rahmen der Laienpflege leisten. Aufgeführt sind unter anderem pflegerische Leistungen von 12 – 17-Jährigen, die harte Arbeit umfassen wie Körperpflege, Lagerungen, Haushaltsführung etc. Der Report ist auf der Seite des ZQP als PDF für Interessierte frei zugänglich und sehr zu empfehlen

Das einzige Hilfsangebot, das ich auf die Schnelle finden konnte, das öffentliche Förderung (über den Berliner Senat) erhält, ist das Projekt „echt unersetzlich“, bei dem ich alleine schon den Titel bezeichnend finde. Immer schön im Kontext des „Du musst“ bleiben. Nicht das noch jemand sein Recht auf Kindheit entdeckt. Nein, man presst die Kinder in einen Helden/Engel/Unersetzlichkeit Kontext, der Imho nur eines bedeuten kann: Man wird den Kindern vielleicht mal eine Kur oder „wohlverdiente Pause“ bezahlen, wenn die Öffentlichkeit Alarm schlägt, aber man denkt im Traum nicht daran, die Kinder daraus zu befreien. Warum sonst sollte man sie als unersetzlich bezeichnen und sich weigern, die Situation als das zu bezeichnen, was sie ist: Kinderarbeit. Egal, ob es sich um Familie handelt, es beeinträchtigt ihre Kindheit und sehr oft auch ihre Entwicklung. Viele sacken in der Schule ab und können dann mit ihren Abschlüssen nicht das werden, was sie werden möchten. Oder sie werden selbst krank. Weil sie in einem Job arbeiten, in dem es selbst erwachsene Menschen durchschnittlich weniger als 10 Jahre aushalten. Ohne Ausbildung. Alleine. Als Kinder.

Ein Kommentar zu „Young carers -Kinderarbeit mitten in Deutschland – und die Politik findet es ganz, ganz toll

  1. Danke für den Beitrag. Und was noch dazu kommt, hier nicht erwähnt, ist das Risiko, dass wenn dann irgendeine Stelle auf die Familiensituation aufmerksam wird, sich das Jugendamt einschaltet. Aber nicht etwa, um zu unterstützen, sondern um die Kinder aus der Familie rauszunehmen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ob damit wirklich geholfen ist, sei mal dahingestellt.

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