Der Jahresendrant hat gute alte Tradition hier. Es ist mein Vierter. Aber worüber sollte ich eigentlich ranten? Ich sitze hier total sicher am Silvestertag, hübsch geschminkt und sicherer war es noch nie. Wir leben völlig voneinander getrennt, das Coronaleben und ich. Corona kommt hier nicht rein und ich drohe nicht, in eine Klinik zu müssen und Euch dort zu belasten.
Warum? Ich hatte jahrelang den Nachtdienst an Silvester auf der größten Rettungsstelle Europas. Ich weiß, wie das ist. Aber ich bin keine Gefahr für Euch. Ich habe nie geböllert. In den letzten Tagen war ich einkaufen. Im Gegensatz zu all den anderen Jahren meines Lebens gibt es nichts, was an Silvester erinnert. Nicht nur keine Böller, sondern auch kein Bleigießen und nichtmal Wachsgießen. Der Staat oder der Markt (wer kann das schon noch auseinanderhalten?) hat dafür gesorgt, dass ich mich auch nicht aus Versehen mit einer Luftschlange erwürge oder mir gar ein Konfetti ins Auge kommt. Nichtmal Glitzerlidschatten gibt es in den Märkten. Feel safe, Ophtalmologie!
Ich fand (und ich lebe in der Hauptstadt und nicht in Posemuckel-Nordost) nichtmal Marzipanglücksschweine und ich gehe davon aus, dass der Markt oder der Staat dafür gesorgt haben, dass ich nicht mit einem Blutzuckerspiegel von Drölfzig nach dem Genuss des Schweins (hat die Dinger überhaupt je wer gegessen?) auf die Innere komme. Nichtmal Wunderkerzen gab es, aber ich denke, das ist nicht Corona und der Klinikentlastung zuzuschlagen, sondern was mit Umwelt. Geht ok.
Der Staat sorgt für unsere Sicherheit. Was ich noch darf? Wie jedes Jahr dürfen 80 Millionen Bundesbürger sich weiterhin ins Koma saufen an Silvester. Tausende werden tun, was sie jedes Jahr tun: nicht ballern, sondern sich selbst zuballern und dann mit Alkoholpegeln jenseits aller Vorstellbarkeit die Rettungsstellen zukotzen , zupinkeln, zukacken(ja!), auf ihren bodennahen Matratzen vor sich hinstinken, Zubluten, weil ihnen beim Komakotzen der Klodeckel auf den Schädel gefallen ist, vor sich hinsabbern, auch mal zuschlagen, den Ablauf stören, andere Patienten angreifen und eine Verwüstung hinterlassen. Den Dreck, den diese zivilisatorische Kunst des Neujahrbegrüßens hinterlassen wird, räumt der Frühdienst weg. Auch den Gestank von tausendfach ausgeatmetem Ammoniakatems, gegen den nichtmal ein 5 Liter Eimer Nilodor anstinken könnte. Das, was ZNAs belastet, was jährlich auch Tausende auf die Intensivstationen bringt wegen Atemdepressionen, das Saufen, ist nicht verboten. Bringt ja auch ordentlich Steuern. Alleine die Sektsteuer (die noch aus der Kaiserzeit kommt) brummt heute Nacht was ein. Im Gegensatz zu Luftschlangen und Konfetti und Glitzerlidschatten. Der Staat oder der Markt sind klug. Wo da der Schutz der Pflege bleibt? Keiner weiß es, interessiert ja auch keinen.
Das Land ist gespalten genug. Wer je den Verdacht hatte, dass von seinen Kollegen der eine oder andere fachlich eher ein geistiger Flachwurzler ist, der konnte sich bestätigt fühlen in diesem Jahr. „Wenn ich mich impfen lassen muss, dann kündige ich!“ (diese Reaktion hatte ich schon vor zweiJahren vorhergesagt, aber sie lesen Die Zeit nicht, da in diesem Regierungsgebäude)und ich darf das blöde finden, lieber vor lauter Trotz und Zorn über die Rettung mit dem eigenen Leben bezahlen zu wollen, als einen Gewerkschaftsbeitrag, ja?
Man kann sogar verdienen mit diesem Schwurbelscheiss. Altenpfleger Metin hat das zu bedienen, den Status eines Influencers gebracht. Ja, auf dieser Plattform, wo Pflege Gewaltdarstellungen an Patienten zu Gangstamusik total witzig findet. Und damit ist er geeignet, jeden erdenklichen Mist an Follower zu verkaufen und hat eine Deutungshoheit erreicht, die unerträglich für Menschen mit Hirn ist. Vor lauter Shitstormschiss ducken sich alle anderen (bis auf zwei, und die sind echt der Knaller) in ihre Bubblelöcher weg. Meinungsfreiheit, wa, hahaha!
Es wird überhaupt alles besser, denn wir haben jetzt einen nationalen Mundpflegestandard. Den kann zwar keiner ausführen, weil es zu wenig Personal gibt, aber hey, voll geil, es gibt wieder etwas zum Abhaken, Schreiben, Ankreuzen und Nichterledigen. Vor diesem Blödsinn rettet uns dann die Lauterbachsche-FDP-Digitalisierung. So cute! Damit verdienen am Schweiß derer, die etwas nicht erledigen können, die, die das nicht erledigen müssen. Yipieh, Glücksschweinebacke.
Überhaupt wird alles besser. Es weiß zwar keiner wie und es hinterfragt auch schon lange niemand mehr die Fakten, weil der neue BMG sich genauso als Heilsbringer inszeniert wie der Letzte, aber diesmal wollen sie es glauben. Und es ist im postfaktischen Zeitalter der Glaube, der Berge versetzt, nicht etwas evidenzbasierten Pflege, Eure bundesgesundheitliche Eminenz.
Dieses Land ist pflegerisch so Lost wie die Erdbevölkerung in „Don’t Look up!“. Aber ich kämpfe hier mit meinen eigenen Spaltungen.
Mein Mann liebt Raclette, ich Käsefondue und weil ich zu clever bin, um mich spalten zu lassen, habe ich ein Single-fondue und er darf dafür dieses Jahr alle Racletteschäufelchen für sich haben. Es ist mir unbegreiflich, wie der Staat das zulassen kann, dass ich noch Brennpaste im Haus haben darf. Aber es ist auch Logik dahinter. Käse hat eine chemisch ähnliche Wirkung wie Morphin (kein Joke) und so ist es wahrscheinlich, dass mich nach ein paar Kilo einfach nichts von dem Blödsinn mehr aufregen wird.
Wir leben in irren Zeiten, aber ich weiß nicht, ob wir noch Corona meinen.
Wie dem auch sei, wünsche ich euch ein bezauberndes Neues Jahr 2022. Danke an alle, die mich durchs Jahr begleitet haben . Danke auch für die vielen Karten und die Neujahrsgeschenke. Es wird weitergehen und ich werde nächstes Jahr noch ein Schäufelchen drauflegen. Und ich meine nicht das Raclette. 🙂 Ach ja, bei uns standen heute Morgen ALLE Menschen meines Bezirks Kilometerweise (!!) an, um Pfannkuchen zu bekommen. Dicht gedrängt. Aber das sind keine Böller und Corona ist ja nicht verboten.
Liebe Monja,
Alles Liebe und Gute für Dich. Danke für deine Gedanken, die den meinen so ähneln. Das Aufregen durch dich zu externalisieren entlastet mich ungemein. Danke.
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Ich danke Dir fürs Lesen und komm gesund ins Neue Jahr
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Derbfein wie stets, deftig und heftig: solches Klappenwerk mit Schreibstil und spitzer Schreibstift. Ich würde dieses muntere Mundwerk echt vermissen, würde sie 2022 fehlen. Darum jetzt die besten Wünsche statt dermaleinst (hoffentlich noch lange dahin) ein fetzige Nachruf.
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Liebe Frau Schünemann, Vielen Dank für ihre wunderbaren Texte letztes Jahr. Ich freue mich schon auf die neuen Beiträge dieses Jahr und wünsche Ihnen alles Gute. In der Schweiz sind ja alle so schrecklich freundlich. „Dürfte ich vielleicht, falls es Ihnen nichts ausmacht…“, „Machen Sie ganz wie Sie es für richtig finden…“ und im Schatten dieses Liebseins wird abgerahmt und umgeleitet, Milliarden, aber auch Kleineres über die Strasse. Dank Ihnen habe ich mich ein bisschen gebessert im Umgang damit!
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Lieber Herr Gysin, Sie AHNEN nicht, wie nett ich abseits meines lyrischen Ichs bin. Aber zum Nettsein in der Schweiz gibt es entzückende Videos von einem Brötchenkauf. „Gerne, sehr gerne“ und ich ahne, was Sie meinen 🙂
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