Zeitarbeit verbieten? Ach, Herr Lauterbach, das ist doch Trash bei 1,3 Millionen unabgegoltener Überstunden!

24521. Das ist sie. Die Zahl, an der das Gesundheitssystem gerade, glaubt man Herrn Lauterbach, zugrunde geht. 24521 Menschen in der Pflege sind in der Zeitarbeit beschäftigt. Das sind gerade einmal 1,4 Prozent aller beruflich Pflegenden.

Sie, so Lauterbach schwächen das Gesundheitssystem, weil sie auf den Stationen nicht mehr als 24/7 unbezahlter Bereitschaftsdienst mit Effekten wie Anrufen im Frei, verfügbar sind.

1,4 Prozent aller Pflegekräfte also bringen das Gesundheitssystem zum Erliegen. Das halte ich für eine Steile These.

Die Gründe, in die Zeitarbeit zu gehen, sind bekannt. Nein, es liegt nicht nur am Geld. Es liegt daran, dass man seinen Dienstplan selbst bestimmt, dass einen niemals jemand im Frei anrufen wird, dass man sich erholen kann, mental frei hat. Und wenn es auf einer Station blöd läuft, die Kollegen einen so behandeln, wie man es aus Nurses hat their Young kennt, dann ruft man einfach an und sagt: Holt mich hier raus! Und dann holen sie einen da raus, denn man ist Goldstaub und den Goldstaub will man sich nicht verprellen lassen.

Das ist übrigens etwas, was Kliniken und Heime bis heute nicht verstanden haben: dass die Zeiten vorbei sind, wo man mit Pflegenden verfahren kann, wie man will. Die gehen dann einfach. Pflegedirektionen aller Orten kommen einfach nicht damit zurecht, dass Goldstaub behandelt werden muss wie Goldstaub und nicht wie Dreck. Und sie verstehen nicht, warum ihnen ihr Personal in Scharen davonläuft.

Daneben gibt es noch die Kollegen, die eine Nebentätigkeit in der Zeitarbeit haben. Sie arbeiten fest in einer Anstellung und nebenbei noch im Leasing. Warum? Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen mussten Kollegen sowieso immer aus dem Frei kommen. Schnell hat man begriffen, dass man diese Stunden aufgrund der Personalnot nie, nie wiederbekommt. Das ist ein gigantischer Kredit der Arbeitnehmer an die Arbeitgeber, der nie, nie nie zurückgezahlt wird. Doch das ist in der Debatte gar nicht Thema. Warum? Ich kenne Kolleginnen mit 1200 (!) Überstunden. Unabgegolten. 1,3 Millionen Überstunden hat allein die Altenpflege vor Corona geleistet. Einfach so.

Da ist es für den einen oder anderen logisch, sich irgendwo anstellen zu lassen und dann im Frei zu arbeiten, nebenbei. Da bekommt man dafür wenigstens noch Geld. Bevor es verboten wurde, arbeiteten so sogar Leasingkräfte auf ihren eigenen Stationen – und bekamen das erstmalig bezahlt. „Geld oder Zeit?“ war die Frage der Stationsleitungen, wenn man einspringen musste. Und weil klar war, dass man die Zeit nie wiederbekommt, ließ man sich über eine Zeitarbeit buchen. Das wurde schnell verboten.

Darüber redet man nicht, wenn man sagt, Leasingkräfte schwächten das System. Leasingkräfte haben einfach die, aus politischer Sicht, unvergleichliche Frechheit, nicht mehr für Gotteslohn zu arbeiten, nicht für emotionale Erpressung – sondern einfach, wie jeder andere Arbeitnehmer, für GELD.

Zeitarbeit ist Belohnung. Mit dem damit erwirtschafteten Geld leisten sich Pflegekräfte oft das, was ihnen mit dem normalen Gehalt unmöglich ist. Den Urlaub, den sie so dringend nötig haben, damit sie nicht im Burnout landen, das Studium, das sie mit 400 Euro pro Monat selbst finanzieren müssen, die Kinderbetreuung, die zusätzlich nötig ist und – auch das ist Fakt – das ganz normale Leben, das ihnen bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage um die Ohren fliegt.

Vielleicht ist das Traurigste an diesem Zeitarbeits-Bashing, dass es von einer Arbeiterpartei kommt. Aber das nur am Rande.

Viel interessanter ist: wenn 1,4 Prozent aller Pflegenden den Gesundheitsminister zum Handeln zwingen können, was können dann 90%? Was könnte eine Geschlossenheit der Pflegenden an politischem Impact entwickeln? Ich mag es mir gar nicht vorstellen.

Gestern hat mich jemand auf Twitter gefragt, was PPR sind. Und ich verstehe, dass ein Teil der Pflege sich für politische Möglichkeiten nicht interessiert. Sollen die anderen machen. Irgendwer „da oben“. Da wundert es nicht, dass man vermeint, es mit dieser Berufsgruppe bunt treiben zu können. Wo die IG Metall schon auf der Palme wäre, ist an Gegenwehr aus der Berufsgruppe Pflege schlicht nichts zu erwarten. Die sind nämlich damit beschäftigt, ihren Hühnergöttern im Internet zu huldigen. Und das ist berechenbar, darauf kann man setzen.

Nein, die Leasingkräfte werden nicht wiederkommen. Die verdienen im Zweifel im Supermarkt an der Kasse ungelernt gar nicht viel weniger. Wozu dann in die krankmachenden Bedingungen zurückgehen?

Ich hab nie verstanden, warum wir das System nicht gründlich reformieren und Beleg-Nurses einführen. Wer echte Pflege möchte und nicht das Abgearbeitet auf der Stationswaschstraße, kann sich eine Pflegefachfrau-mann buchen und sich von denen versorgen lassen. Klingt irre? In der Medizin ist das Gang und Gebe.

Privatpflege is the key. Aber dann würden Pflegekräfte ja verdienen und endlich arbeiten können. Der Normalverbraucher würde endlich verstehen, was ihm entgeht. Und deshalb bleibt auch da der Deckel drauf. Leasingkräfte werden lieber aus den Nischen, die sie sich selbst geschaffen haben, gekärchert. Dabei sagte man noch vor 5 Jahren, der Markt regele das. Nun hatte der Markt geregelt. Zum Erstaunen derer, die geglaubt haben, man meinte damit die Kliniken…

Das also ist das neue Sozialdemokratie. Ich bin erstaunt.

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3 Kommentare zu „Zeitarbeit verbieten? Ach, Herr Lauterbach, das ist doch Trash bei 1,3 Millionen unabgegoltener Überstunden!

  1. Ich stimme Ihnen in vielen Punkten und der Kernaussage absolut zu: wer jahrzehntelang den „Markt“ als das Allheilmittel predigt, darf sich weder wundern noch in übelster Weise agitieren, wenn nun auch die Leistungsträger den „Markt“ und seine Effekte für sich nutzen lernen.
    Das ist bigott!
    Ein „aber“ habe ich dennoch: die Unsummen an Geld, die in den Taschen der Vermittlungsfirmen landen schmerzen schon sehr. Denn das ist anstrengungslos abgezweigtes Solidarvermögen, das für Gesundheitsversorgung dann nciht mehr zur Verfügung steht. Und das halte ich für ebenso kritisch, wie Milliardenrenditen aus Klinik- und Pflegeheimbetrieb.
    Den zeitarbeitenden Kolleg*innen ist wirklich jeder Euro von Herzen gegönnt – aber nicht den Raubrittern am Wegesrand.

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