Pflege als Grenzsituation

Es gibt noch weitere Gründe, als bloße Berufspolitik, sich als Profession näher mit Philosophie auseinanderzusetzen. Diese Gründe können wir sowohl bei uns selbst, den Pflegenden, als auch bei den Patienten/Bewohnern finden. Ein erster Schritt dahin kann das Verstehen der Situation, der persönlichen, aber auch der Allgemeinen sein.

Deshalb möchte ich Euch heute mit Karl Jaspers (1883-1969) vertraut machen, der übrigens der Lehrer von Hannah Arendt war. Zur Unterscheidung von Situationen und Grenzsituationen zieht Jaspers folgenden Schnitt:

Vergewissern wir uns der menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heisst, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie“ (Jaspers, E. 20f.)

Die Kategorien, die Jaspers hier eröffnet, sind für uns äußerst interessant. Sterben, leiden, kämpfen sind Begriffe aus dem pflegerischen Alltag der Patienten/Bewohner. Sie sind eng verknüpft mit Krankheit. Gleichwohl kommen diese Begriffe im Alltag der Bevölkerung kaum vor, die eigene Vulnerabilität und die eigene Endlichkeit des Lebens ist tabuisiert. Wie stark dieses Tabu ist, konnte sehr schön an Rezos Politvideo wahrgenommen werden. Es ist, in seiner ganzen Wut und Kraft, äußerst lebensbejahend. Er setzt sich für das Klima ein, um Leben möglich zu machen (zu behalten) und gegen den Drohnenkrieg. Das ist aus Sicht der Jugend, in der das eigene Leben nahezu unendlich scheint, absolut verständlich. Pflege, Leid und Sterben hat er als Alltagsbegriff, wie wohl die meisten, nicht auf dem Radar gehabt, obwohl diese Dinge ihn selbst und seine Generation stärker bedrohen, als etwas, was weiter weg ist (und gleichsam wichtig ist, hier kein Irrtum). Umso stärker also der Kontrast, wenn Krankheit und Alter die eigene Endlichkeit spüren lassen. Das ist Grenzsituation, das ist ganz klar. In der Pflege wird sie allgemein akzeptiert, nicht umsonst setzen wir uns (so wir die Zeit dafür haben) mit der ABEDL „Existentielle Erfahrung auseinander“, zu der der Schmerz genauso gehört, wie der Umgang mit Endlichkeit.

Doch etwas verborgener ist die Angelegenheit für Pflege. Die gemeinsame Schnittmenge scheint der Kampf zu sein. Wir kämpfen uns durch die Schicht, kämpfen um ein Leben, kämpfen uns durch die Bürokratie des Dienstes. Das sind nicht nur Begriffe eines Jargons, sondern Begriffe, die die Härte verdeutlichen. Auch um 4:30 aufstehen, kann ein Kampf werden und sein und jeder kämpft sich durch die Nacht. Auch der Umgang mit dem völlig aus dem Gleis geratenen Biorhythmus ist ein Kampf und Leid. Es wird vielfach unterschätzt.

Wie der Dienst läuft, ist auch eine Sache des Zufalls. Jedenfalls vermeinen wir das. In 23 Jahren habe ich nie jemanden sagen hören, dass der Dienst ruhig war. Auch wenn er es war. Die strikte Unterbesetzung, unter der die Stationen allenthalben laufen, sind systematisch, sie sind nicht Zufall. Sie sind unabänderlich. Die Bedingungen, unter denen Ihr euren Beruf ausübt, sind Situationen, über die Ihr nicht hinaus könnt. Das führt zu einer Ohnmacht, die zu einer steten Grenzsituation führt. Und hier liegt das Problem. Die stete Grenzsituation ist mehr, als nur das Auftreten einer Irritation des Normalen. Die Grenzsituation IST der Normalzustand. So kann man freilich nicht leben. Dass Pflege dagegen nicht aufbegehrt, ist dem Wegschauen geschuldet, das sich daraus ergibt. Zwar wissen oder ahnen wir, dass es auch anders ginge, aber im stillen Akzeptieren und Leiden vollzieht sich eine Zustimmung. So ist das halt… oder so ist der Beruf eben, so ist die Realität. Gerade Auszubildenden wird oft erklärt, was sie da lernen, sei nicht die Wahrheit. Jaspers sagt: „Als Dasein können wir den Grenzsituationen nur ausweichen, indem wir vor ihnen die Augen verschließen […] aber es bleibt am Ende nichts, als uns zu ergeben“ (Jaspers PII 204). So kommt es, dass viele vermeinen, die Grenzsituation sei das Normale und das Richtige inexistent. So kommt, es, dass die Kraft zum Kämpfen verloren gegangen ist, oder sich nicht koordinieren kann, in Gewerkschaften oder Kammern, in Vereinen oder Demonstrationen. Man hat sich passiv ergeben, die ewig andauernde Grenzsituation wird zum tatsächlichen, ewigen Leid des eigenen Berufslebens.

Es ist das, was das System Pflege so totalitär macht, denn tatsächlich ist das Leiden „[…] nichts einzelnes mehr, sondern gehört zur Totalität.“ (PW 251).

Dieses Leiden wird von der Gesellschaft jedoch nicht akzeptiert. Wir verstecken es hinter sinnfreien, nicht näher definierten Worthülsen, wie dem Jargon von der „Wertschätzung“, die wir gerne hätten. Tatsächlich wird sich an dem Leid der Pflegenden sogar geweidet, und das patientenseitig. So erzählte mir meine TL jüngst auf Twitter, wie verächtlich Patienten von ihnen in ihrem Beisein sprachen. Wer Pflege gelernt habe, der könne ja nichts richtiges. Wer in der Rente noch arbeiten gehen müsse, weil sie nicht reiche, der sei selbst schuld, denn es sei ja wohl so, dass, wer Pflege gelernt habe, zu etwas richtigem zu dumm sein. Unvergesslich auch die Erzählung, wo sich eine Patientin weigert, den Privatparkplatz vor ihrem Haus dem PD für den Einsatz zuzubilligen. Zwar habe sie kein Auto, aber wenn mal Besuch komme, sei der dafür da. Und dazu gehöre der Pflegedienst halt nicht.

Hat eine rohe Gesellschaft das Recht, Leidenden aus Lust am Leid mehr Leid zuzufügen? Natürlich sind diese Situationen nicht der Regelfall. Aber auch das Negieren jedes Zwangs, für die Gesundheitsberufe endlich zu handeln, kann als passive Zustimmung zum Leid verstanden werden. Dann ist das für die eben so. Selbst schuld. Man hat ja schließlich ein Recht auf Versorgung. Nein, ist mein Argument, unter diesen Bedingungen gibt es kein Recht auf Ausbeutung und Gewalt. Selbst zu leiden ist keine Berechtigung immanent, gewalttätig zu sein, oder auszubeuten.

An diesen Punkt müssen wir dringend arbeiten.

Sichtbarkeit des eigenen Leids der Berufstätigen unter diesen Bedingungen und das Artikulieren. es ist nichts, was zu Beruf, Berufung oder Pflege gehört. Nichtmal im Kloster gab es Leid.

Es ist eine völlig andere Schärfe zwischen „Ich wünsche mir mehr Wertschätzung und vielleicht ein besseres Gehalt“ als „Ich bin in meinem Beruf selbst so viel Leid einer verfehlten Gesundheitspolitik ausgesetzt, dass ich mich entscheide, zu gehen!“ oder „Ich leide so sehr unter den Bedingungen meines Berufes, dass ich erwarte, dass dieses Leid abgestellt und zumindest deutlich besser entlohnt wird!“

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