(R) Ausbildung. Wie informelle Strukturen und Hierarchien in der Pflege den Nachwuchs beeinflussen. Eine Kultur der Grausamkeit und Empathie.

Krohwinkels Modell einer holistischen Pflege sollte zu Beginn der 1990er Jahre einen Paradigmenwechsel in der Pflege einläuten: auf der Basis der Aktivitäten, Bedürfnisse und existentiellen Erfahrungen des Lebens (ABEDL) sollten Pflegende ihre Patienten ganzheitlich versorgen. Ganzheitlichkeit, das war das große Stichwort dieser Zeit, der Ansatz stammte aus der Psychosomatik und versprach, die Funktionspflege endlich abzulösen, bei der die einzelnen Tätigkeiten im Stationsalltag von verschiedenen Personen ausgeführt wurden. Dies geschah streng hierarchisch. Patientennahe Tätigkeiten galten als niedrig, arztnahe Tätigkeiten, wie Verbände anlegen oder das Verabreichen von Medikamenten als vollwertig, den höchsten Rang nahm dann Schreibarbeit an den Patientenkurven ein, die Schülern oder Krankenschwestern strikt untersagt und im Zuständigkeitsbereich der Stationsleitung lag. Wer schriftlich Wissen zur Verfügung haben wollte, führte ein Oktavheft mit sich, in das mühsam alle Informationen zu den Patienten geschrieben wurden.

            Mit der Einführung der individuellen Pflegeplanung schien das Problem beseitigt. Alle führten nun Kurven, der Hoheitsbereich des Schreibtisches schien entmachtet. Eine Forderung, die schon lange vor Krohwinkel gestellt, aber nie durchgesetzt wurde. Doch nicht alle profitierten davon. Avant la lettre wurden die hierarchischen Strukturen der Pflegetätigkeiten beibehalten und haben bis heute den Stationsalltag nicht verlassen. Es gab Tätigkeiten, die traditionell den Schülern, also den Auszubildenden vorbehalten war: Waschen (also die eigentliche Grundpflege), das Putzen von Spülen, Botengänge, Putzen von Nachttischen, Wäsche einräumen und sortieren. Wer sich widersetzte, der galt als „unverschämt“ und besonders tragisch war es, dass diejenigen examinierten Kollegen, die so ihre Macht missbrauchten, um die – traditionellen – minderen Aufgaben nicht machen zu müssen, auch noch die Macht hatten, die scheinbare Aufsäßigkeit der Auszubildenden vermittels der Notengebung zu bestrafen. Ein Teufelskreis. Dabei werden auch heute Auszubildende auf den Stellenplan angrechnet. Der zunehmende Fachkräftemangel macht sich in der Ausbildung bemerkbar, weil die Anleitung nicht mehr gelingt und die jungen Kollegen mit den Aufgaben alleine gelassen werden.

            Aber es gibt auch eine andere Schattenseite, über die man nicht spricht: die Strukturen des 20. Jahrhunderts haben die Pflege nie verlassen. Noch immer gibt es Stationen, auf denen Schüler die Mitarbeitertoiletten nicht nutzen dürfen, weil das „unhygienisch“ sei. Den Schülern wird somit klar gemacht, dass sie nicht dazugehören, sich irgendwo im Nirgendwo zwischen Patient (der natürlich als Kunde ein eigenes WC hat) und niemand befinden. Das ist Einnordung und Gewalt der übelsten Sorte. Noch immer gibt es Schülerarbeiten. Die sind noch immer zumeist pflegefremd, werden aber von Vollkräften an Schüler delegiert, weil „das bei uns auch so war“. Es herrscht eine Tradition der Gewalt und der Hierarchie. Schüler sind es, die in den Pausen als erste „auf die Klingel zu gehen haben“, weil die Vollkraft ihre Pause braucht. Schüler sortieren Wäsche. Schüler werden angeschrien, wenn sie sich nicht in diese bescheuerte, der Ausbildung abträgliche Struktur einfügen. 

            Sobald die Azubis ihre Ausbildung beginnen, sind sie zumeist zwischen 16 und 17. Die auf den Stationen herrschende Gewalt wird mit dem Fachkräftemangel begründet. Doch so einfach ist das nicht, denn es hat diese Gewaltformen schon weit vor den 70ern gegeben, als es noch Funktionspflege gab. Erhalten haben sich informelle Strukturen einer gewaltbereiten Pflegecommunity. Diese ist, so zeigt es die Erfahrung, die lediglich bei Twitter in Tweets hochkocht, ist nur zu gerne bereit, nach unten zu treten. Nehmen wir diese Arbeitsgewalt genau, dann werden dort Kinder – denn das sind 16 Jährige nunmal – misshandelt durch psychische Gewalt, durch Mobbing und beschweren sie sich, gilt noch immer die Zeugnismacht und das allseits beliebte „das war bei uns auch so“, „hab Dich nicht so“.

            Was der Schüler zuerst lernt: mit seinem Gefühl stimmt offenbar irgendwas nicht. Denn alle halten diese Gewalt aus, machen sie mit, sie scheint dem Beruf immanent zu sein. Hilfe gibt es kaum. Was macht der Azubi? Internalisiert diese Gewalt als Norm (und wird sie weiter tradieren) oder – er steigt aus. 

Zahlen zu Gewalt liegen natürlich nicht vor. Zu vermuten wäre eine Kultur der Angst,  der Gewalt und des verzweifelten Einnordens einer Generation, die sich eben nicht mehr einnorden lässt. Gottseidank. 

Hat der Azubi diesen Status hinter sich, wurde also 3 Jahre ordnungsgemäß misshandelt, hat kapiert, dass die Schule etwas lehrt, was die Station nicht hören will (wir nennen das freundlich Kluft zwischen Theorie und Praxis), dann kommt der Nächste und erklärt ihm, dass die Bedingungen in diesem Beruf normal seien. Er solle nicht jammern. Sein Gefühl stimmt irgendwie nicht. Welch gewaltvolle Strukturen dahinterstehen, kann sich jeder ansehen, der einmal Alice Miller: Du sollst nicht merken – Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt 1981 gelesen hat. Selbstmitleid ist, glaubt man den Aufforderungen der Berufskollegen und Erwin Rüddel, das Letzte. Zu merken, dass etwas falsch läuft, dass man misshandelt wird, staatsseitig, arbeitgeberseitig, dass sich der Arbeitgeber und somit der Staat verhält, wie ein misshandelnder Vater (Staat), das ist der Satz, den niemand aussprechen soll. Denn die Bedingungen gründen auf einer strukturellen (staatlichen) Ausbildung, es ist der Staat, der diese Gesetze gemacht hat. Wer heute Auszubildende behandelt, wie den letzten Dreck, wer Pflegenden erklärt, sie sollen nicht jammern (=fühlen), der ist selbst Opfer dieser Gewalt geworden. Und leider auch Täter. Deshalb steigen die Leute aus. Avant la lettre faseln alle was von Empathie. Aber die ist längst einer Kultur der Rohheit gewichen. Mitgefühl und Grausamkeit sind die dunklen Seite dieser Empathie. (lest Ihr hier https://www.deutschlandfunk.de/mitgefuehl-und-grausamkeit-die-dunkle-seite-der-empathie.1148.de.html?dram:article_id=412008)

Wissen ist nichts wert. Wir sollen nicht merken und wir sollen das nicht wissen. 

2 Kommentare zu „(R) Ausbildung. Wie informelle Strukturen und Hierarchien in der Pflege den Nachwuchs beeinflussen. Eine Kultur der Grausamkeit und Empathie.

  1. Ich arbeite bei der AWO Triakog und bin entsetzt über diese Darstellung.
    Bei uns kommt derartiges niemals vor.
    Auch im AWO Pflegeheim, meiner. Mutter, sehe ich zwar auch Defizite, aber nicht so verheerende,wie in diesem Artikel beschrieben

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    1. Kleiner Tipp: mal mit Auszubildenden reden, mal die Kommentare unter dem Artikel in einschlägigen Social Media lesen, mal #respectnurses lesen. Und AWO.. da sagen wir im derzeit laufenden Skandal mal nix zu, hm?

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