ABEDL 10 (sich als Mann oder Frau fühlen) – Gender: the next Level. Aufgaben, Probleme, Perspektiven

Als ich ausgebildet habe, gab es immer diese eine ABEDL, bei der ich die Fragezeichen in den Gesichtern förmlich sehen konnte: ABEDL 10. „Sich als Mann oder Frau fühlen – und verhalten“. In den Pflegeplanungen fand ich nie einen Aspekt dazu, wenn ich sie durchgesehen habe. „Fühlt sich als Mann“. Zack. Fertig. Die Frage, woher der Planer WÜSSTE, dass sich sein Patient/Bewohner als Mann fühle, trieb den Leuten Schweißperlen auf die Stirn. Und tatsächlich sehe ich hier einen riesigen Bedarf und ein riesiges Problem.

Der Mensch, das ist klar, ist ein sexuelles Wesen. Krankheiten können dazu führen, dass auf der einen Seite Sexualität nicht mehr, oder nicht mehr vollständig gelebt werden kann. Dann ist es pflegerische Aufgabe, auch diesen Aspekt in das pflegerische Handeln mit einzubeziehen, den Patienten aufzuklären, ihm Hilfe anzubieten und ihn zu beraten, damit er in die Lage versetzt wird, das Defizit zu überwinden.

Was Kollegen darauf machten: Der Patient hat ein Recht auf Sexualität und ich muss akzeptieren, dass ich sexualisierter Gewalt ausgeliefert bin. NEIN NEIN EINFACH NEIN!

Es kann in diesem Kontext bedeuten, dass wir darauf achten, dass Diabetiker erektile Dysfunktionen haben können, dass Menschen mit einem Querschnitt Beratung dazu benötigen, wie sie ihre Sexualität leben können (tatsächlich gibt es für Männer bei bestimmten Formen die Möglichkeit, durch Stimulation eine Erektion aufzubauen, auch prothetische Hilfsmittel etc.), postoperative Komplikationen mitzudenken und Gespräche anzubieten. Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Denken wir alleine an die Frage, wie Sexualität im Alter gelebt werden sollte/könnte und dass es dazu Hilfsmittelberatung geben müsstest Ann merken wir schnell die Kluft zwischen dem, was möglich ist und dem, was wir tun. Die Wenigsten werden in den Seniorenheimen eine Dildoparty geplant haben, mit den Angehörigen über Bedarf gesprochen, Sexarbeiterinnen bestellt oder das Thema überhaupt verbalisiert haben. Dabei ist es nicht nur der Zeitfaktor, der Pflegende hindert. Es ist auch der Konflikt, ein Thema anzusprechen, dass sich nicht gerne ansprechen lässt, das Angehörige schockiert, das Betroffene so gar nicht mit ihrem Bild von „Krankenschwester“ (ich komme gleich drauf!) vereinbaren können: Gesundheitsberatung. Problem, Problem, Problem. Da schreibt man dann besser: fühlt sich als Mann, Thema erledigt.

Dazu kommt der Beratungsbedarf bei der Identität des eigenen Geschlechts, der in der Klinikwahrnehmung zumeist da stattfindet, wo Krankheiten oder Unfälle zu Einschränkungen der Ressource geführt haben. Wir denken an Mammaamputationen, kosmetische Probleme, Haarausfall (ja, Haare können tief mit der weiblichen Identität zusammenhängen). Dort ist es dann zumeist Hilfsmittelberatung, dir Pflege zumeist in standardisierten Abläufen gar nicht selbst tätigt.

Während wir also noch mit der 1990er Aufgabe hadern, hat die Zeit uns überholt. Seit sechs Tagen heißen wir nun „Pflegefachfrau“ und „Pflegefachman“. Sechs Tage ist das alt und im Grunde schon nicht tragfähig. Warum? Das ist nicht einfach zu erklären und ich erhebe ÜBERHAUPT KEINEN ANSPRUCH AUF VOLLSTÄNDIGES VERSTEHEN, aber ich versuche es mal.

Ein Baby kommt auf die Welt, die Hebamme ruft freudig „es ist ein Junge/ein Mädchen“ und macht das an den biologischen Geschlechtsmerkmalen fest. Diese Welt ist also dual, es gibt zwei Geschlechter. Aber: weit gefehlt. Zu den biologischen Faktoren kommt die soziale Rolle. Die sieht für Mädchen ungefähr so aus: Mädchen tragen rosa, Jungs tragen blau, Mädchen essen die Prinzessinnensuppe und Jungs die für Ritter (es gibt wirklich Gendermarketing, wen das interessiert ,der schaut sich einmal die #rosahellblaufalle an) und sehr viele Leute wehren sich mittlerweile dagegen, geschlechtsspezifisch erziehen zu sollen. Das macht für mich Sinn, warum soll ein Mädchen nicht Baggerfahrerin sein?

Aber, cave davon ab gibt es natürlich noch die eigene Identität. Schon die Wortwahl ist schwierig. Politisch waren früher die Alpen die Trennlinie für „hüben und drüben“. Wer also beispielsweise in Bayern lebte, für den war Italien „transmontan“ und das eigene Land cismontan. So läuft das auch mit der Zuschreibung. Cis sind all jene, deren biologische Merkmale und die Identität übereinstimmen. Trans sind all jene, die beispielsweise Frauen mit Penis sind. Es sind etliche Sprachfallen in den Begrifflichkeit, mit denen sich Pflege selten auseinandersetzt. Zum Beispiel der Sprech vom „im falschen Körper leben“. Betroffene lehnen das zurecht zumeist ab. Das ist klar: würde jemand Euch sagen: Hömma, Dein Körper ist irgendwie falsch, wärd Ihr sicher stark verletzt. Der Körper ist das Ich. Zu sagen, der Körper sei falsch, pathologisiert dabei etwas, was nicht pathologisch ist. Das nächste Sprachproblem ist, dass gesellschaftlich oft von „sich als Frau FÜHLEN“ gesprochen wird. Nicht von „Frausein“. Also: Aufmerksamkeit auf die Sprache auch in der Planung. Es sind nicht beispielsweise „Männer, die sich als Frau fühlen“, sondern FRAUEN. PUNKT! Es gilt die eigene Identität.

Missgendern: Zu den größten Problemen gehört es, dass wir entweder von den Personalien, die wir lesen (auf Aufklebern und dem Stationstamtam) oder von den körperlichen Merkmalen, die wir ja ebenfalls „lesen“ darauf schließen, welche Identität das Gegenüber hat. Das jedoch muss nicht mit der eigenen Identität übereinstimmen. Ein gut gemeintes „Guten Tag, Herr XY!“ kann also nach hinten losgehen und von vornherein verletzen. Es braucht hier Lösungen.

Wir selber haben mit der neuen Berufsbezeichnung zwei Identitäten zur Wahl: Pflegefachfrau und Pflegefachmann. Es gibt aber jede Menge Menschen, die nicht entweder oder, sondern nonbinär sind. Eine clevere Alternative wäre zum Beispiel die Pflegefachperson gewesen. Nun hängen wir der gesellschaftlichen Entwicklung schon wieder hinterher.

Die Frage nach der Norm: Ja, sich davon zu lösen, dass es lediglich zwei Geschlechter gebe, dass jeder nur ein Geschlecht habe oder zugeordnet werden müsse, ist gar nicht so einfach. Und es schafft im Stationsalltag Konflikte. Vor allen in Zeiten der personellen Not. Nein, ich habe keine Idee, wie ich es angehen würde, eine Person, die sich äußerlich als Mann lesen lässt, aber eine Frau ist, einem Zimmer mit Frauen zuzuordnen, ohne dass es richtig heftige Konflikte gibt. Aber ich denke, es benötigt Arbeitsgruppen und Gespräche, bauliche Gegebenheiten und Schutz.

Es benötigt eine Anpassung dieser ABEDL. Wenn ich als Pflegender nur die Auswahl habe, meinen Anvertrauten „sich als Mann oder Frau“ fühlen zu lassen, dann ist das sprachlich falsch (er fehlt sich nicht, er ist) und die Auswahl ist zu gering.

Nein, das ist gar nichts Neues. Es gibt viele uralte Kulturen, die weit mehr als zwei Geschlechter kennen. Die Denke, dass alles so bleiben muss, wie man es mal gelernt hat, ist sehr eurozentristisch. Es mag auf den ersten Blick verwirren, dass es annähernd 40 Geschlechter gibt, aber es ist nicht mein Job, die Leute zu Labeln. Das können die einzelnen Individuen gut selbst und es mir mitteilen. Ich muss nur danach fragen.

Für uns ist ungewohnt, dass es abseits von Einschränkungen bei Krankheit (Unfällen, Diabetes) Handlungsbedarf im Umgang damit gibt. Das müssen wir schnell aufholen.

Ja, es gibt die Frage, wo denn der Feminismus bleibt. Ja, das sind stark kontrovers diskutierte Themen. Was soll Pflege tun? Warten, bis der Diskurs vorbei ist und sich dem Konsens anschließen? Oder den beruf einfach Mals selbst in die Hand nehmen und handeln.

Den ersten Zug, nämlich die eigenen Berufsbezeichnung, haben wir ja schonmal verpasst.

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