Die Infektionszahlen explodieren in Deutschland und die einzige Möglichkeit, die Welle zu brechen, wäre eine Erhöhung der Impfquote. Doch ausgerechnet hier liegt Deutschland hinter dem Bedarf zurück. Nur 67,9% der Bevölkerung sind derzeit vollständig geimpft und nun stehen die Booster-Impfungen an. Das Land ist gespalten. Gespalten in die, die sich impfen lassen oder ließen, und in die, die der Impfung skeptisch gegenüberstehen, sie ablehnen und die Fakten über das Virus nicht akzeptieren können oder wollen.
Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Frage, woher die Skeptiker ihre Informationen nehmen. Die meisten Fehlinformationen grassieren dabei in den Weiten des Internet und auf den Sozialen Medien, wo sich in die Fakenews auch Verschwörungstheorien mischen, wie die, dass sich Mitarbeiter des Gesundheitswesens unter Gullideckeln versteckt halten und Passanten beim Drüberlaufen die Impfung heimlich in die Wade geben würden. Viele Informationen, wie diese, sind dabei an Absurdität nicht zu überbieten, andere schlichtweg falsch. Doch warum eigentlich glauben die Leute das Unglaubliche? Und weshalb glauben sie es in anderen Ländern nicht?
Die Verarbeitung von gesundheitsrelevanten Informationen und deren Umsetzung in das eigene Leben wird Gesundheitskompetenz genannt. Im Englischen ist das Wort präziser, dort heißt sie Health Literacy und bezeichnet die Literalität im Umgang mit gesundheitsspezifischen Orientierungsmöglichkeiten. In Deutschland ist sie sagenhaft schlecht. Seit Corona noch schlechter. Mehr als die Hälfte der Deutschen (55,9%) sind nicht in der Lage, Informationen diesbezüglich einzuordnen. Das hat Folgen. Behandlungsanweisungen werden nicht befolgt, die Sicherheit bleibt auf der Strecke, viel öfter muss ins Krankenhaus eingewiesen werden.
Vor diesem Umstand verwundert es also nicht, dass Informationen, die im Netz präsentiert werden, und seien sie noch so absurd, leichter geglaubt werden, als die noch einfachere Wahrheit: wir müssen uns impfen lassen und das ist für die meisten Menschen unproblematisch.
Deutschland zahlt in der Pandemie dafür einen hohen Preis an Leben. Rein rechnerisch stürzt täglich ein Flugzeug über uns ab, so viele Menschen sterben täglich an der Coronainfektion. Doch auch die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen zahlen einen hohen Preis. Sie sind überlastet, ausgebrannt, erschöpft, können seit Monaten nicht mehr. Wieder soll nun das Arbeitszeitgesetz ausgesetzt werden, 12-h-Schichten sind wieder möglich. Wie schon in der ganzen Pandemie baden die Gesundheitsberufe die Suppe aus, die eine verfehlte Gesundheitspolitik ihnen jahrzehntelang eingebrockt hat.
Das Paradoxe an der Situation ist aber, dass die Gesundheitsberufe die Suppe doppelt auslöffeln müssen. Jahrzehntelang hat man ihnen in der beruflichen Entwicklung Steine in den Weg gelegt. Anders als in vielen anderen Ländern in Europa, ist den Menschen in Deutschland kaum bekannt, dass Pflege wesentlich mehr kann, als nur in Kliniken und in der Langzeitpflege tätig sein. Andere Länder, und zwar die, mit der wesentlich besseren Health Literacy, setzen die Kompetenzen der Pflegenden, die diesen Beruf studiert und nicht gelernt haben, ein, um Prävention zu betreiben. Anderswo sind Pflege und Medizin nicht Reparaturtätigkeit, sondern werden dazu genutzt, die Gesundheitsvorsorge des Einzelnen zu unterstützen. Sogenannte Quartierpflege oder Community-Health-Nurses haben in diesen Ländern die Aufgabe, den Einzelnen bei Entscheidungen zur Erhaltung seiner Gesundheit zu empowern und ihnen auch durch Auf- und Erklärung Hilfestellungen zu geben. Die Zahl an Menschen, die sie dabei betreuen, und zwar weit vor dem Eintreten eines gesundheitlichen Problems, ist dabei dermaßen überschaubar, dass sich ein Vertrauensverhältnis zwischen den Gesundheitsberufen und denen, die sie betreuen, aufbaut. Die Nurse ist die, zu der man geht, die, die Zeit für ein Gespräch hat, die, die Rat weiß.
Über all diese Dinge verfügt jedoch unser Land nicht. Wir sind pflegerisches Entwicklungsland. Und das so sehr, dass gestern, als bei Anne Will die Frage aufkam, wer eigentlich impfen könne, lieber der Tier- und der Zahnarzt genannt wurde, als die, die täglich Spritzen setzen: Pflegende.
Bei wenig zeigt sich der pflegerische Blinde Fleck des Landes so sehr wie bei dem Zusammenhang zwischen der verfehlten Professionalisierung der Pflegeberufe und der kaum einzudämmenden Entwicklung der Pandemie. Jetzt, in der Pandemie, wo persönliche Kontakte, Gespräche, medizinisches Vertrauen und Hilfe bei der Gesundheitskompetenz wichtig gewesen wären, bricht Corona in die gesundheitspolitische Lücke ein, die die Politik dem Land wie eine Wunde zugefügt hat.
Was Pflege könnte, welchen Zugewinn an Lebensqualität und -sicherheit dieses Land gehabt hätte, hätte es den Entwicklungsrückstand in den Gesundheitsberufen zu anderen europäischen Ländern schon vor Jahrzehnten aufgeholt, ist in Deutschland so unsichtbar, dass es im Nebel aller Konjunktive verschwindet. Deutschland setzt, anders als andere Länder, auf Minderqualifizierte und Hilfsberufe, die noch nicht einmal eine dreijährige Ausbildung haben, um die Personallücken vor allem kostengünstig in der Pflege zu schließen. Das dient vor allem der gewinnmaximierenden Gesundheitswirtschaft. Der Gesundheit allerdings, die staatliche Daseinsfürsorge sein sollte, dient es nachweislich nicht. Täglich stürzt, statistisch gesehen, ein Flugzeug über Deutschland ab, und das nur, weil wir gesagt haben, dass es zu teuer wäre, einen Piloten zu qualifizieren, der es sicher steuern könnte. Wer billig kauft, so sagt ein Sprichwort, kauft und zahlt zweimal. Doch Leben sind nicht nachzukaufen. Wann hat die Gesundheitspolitik vergessen, dass Leben deshalb heilig ist?