Michel Foucault, Altenpflege und die Demenz – Gerontopsychiatrie mal anders

Es ist ein ganzer Ausbildungsblock, der sich mit „der Pflege psychiatrisch Erkrankter“ befasst. Und eigentlich passt mir schon das nicht, weil es somit eine Sondergruppe an Menschen zu geben scheint, aber ok. Für das Thema nehme ich mir jede Menge Zeit. Zuerst einmal habe ich eine Exkursion bewilligt bekommen. An einem Tag durfte ich mit 31 Schülern in die Ausstellung „Totgeschwiegen“ in die ehemalige Bonhoeffer.

Morgens um 8 haben wir uns in der Schule getroffen und ca. 15 Minuten habe ich erklärt, wie man bis ins 19. Jahrhundert mit psychiatrisch Auffälligen umgegangen ist. Wer überhaupt war das? Frauen, die Fremdgingen, Menschen, die keine Arbeit hatten, Menschen mit Behinderung, kognitiv eingeschränkte Menschen. Wir sprachen über das Abschneiden von langen (Frauen)haaren, vom Anketten, ich zeigte ihnen Sequenzen aus dem Video „Die Hölle von Ückermünde“ und niemand, wirklich niemand, hatte je von der Psychiatrieenquette gehört. Niemand wusste, dass alte Menschen und psychiatrisch Erkrankte bis in die 70er Jahre in Einrichtungen waren, dass Psychiatrie die Wurzel des Altenpflegeberufes ist. Ich. Habe. Nicht. Geweint!!!!

Dann habe ich 4 Gruppen erschaffen (Hallo Gruppenformierungsprozess am frühen Morgen!) und die Aufgabe war folgende:

Unabhängig davon, was Sie wissen, reden wir über Demenz.

Sie haben die Sicht des Bewohners. Was sind IHRE Anforderungen an die Situation?

Sie haben die Sicht des Angehörigen. Was sind IHRE Anforderungen an die Situation?

Sie haben die Sicht der Pflege. Was sind IHRE Anforderungen an die Situation?

Sie haben die Sicht der Ärzte. Was sind IHRE Anforderungen an die Situation?

Nach 30 Minuten war das Dilemma klar. Der Betroffene möchte einfach sein Leben weiterführen. Alle anderen wollen Kontrolle. Angehörige wollen Kontrolle abgeben, aber wiederum Kontrolle über die Pflege erlangen. Ärzte wollen, dass ihre Aos ausgeführt werden, und Kontrolle über die Pflege. Pflege will selbstständig ihren Beruf machen und sich von der Situation nicht einschränken lassen. Und: sie wünschen sich, dass sie ihr Tageskonzept ungestört durchziehen können. Pflege will sich nicht kontrollieren lassen.

Tagchen, Dauerkonflikt! <——-

Dann waren wir in der Ausstellung. Ich möchte nicht behaupten, dass das jeden interessiert hat. Es schien vielleicht auch zu weit weg. Auf dem Gelände befindet sich zugleich die Sicherungsverwahrung. Dort wollten einige „so einen mal sehen“. Das fast verwahrloste Gelände erweckt den Anschein eines rotten places, wird aber betrieben. Es war für einige schwierig, das zueinander zu fügen. Das Vergangene, das Ehemalige, das Fremde und das Jetzige. Ich weiss nicht, was diejenigen, die „so einen“ mal sehen wollten, erwarteten. Hannibal Lector oder so. Aber der ethisch bedenkliche Wunsch kam mir auch entgegen (und selbstverständlich habe ich ihn nicht erfüllt!).

In der nächsten Stunde dann habe ich sie gefragt, was Ethik sei. Das wussten sie nicht so genau. Sie kannten den Kodex, aber keine Definition. Ich sagte, dass das ok sei, denn es gäbe eigentlich keine. Es gäbe philosophische Ansätze, aber weil niemand Philosophie aus unserem Beruf lese und es nicht Teil des Lehrplans ist, klafft da eine Lücke. Ich empfahl Bücher. Und: wir lasen Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft.

Foucault gilt bis heute im akademischen Betrieb als ein durchaus schwieriger Autor. Eine Gazette schrieb, Foucault zitieren zu können, gelte bis heute als „der Schwanzvergleich an der Universität“. In Wahnsinn und Gesellschaft setzt er sich mit der Otherness der psychiatrisch Erkrankten in Mittelalter und Früher Neuzeit auseinander. Ein ganzes Kapitel widmet er der Demenz. Spannend ist, dass der Text für Ältere zugänglicher zu sein scheint. Ich schiebe das implizit auf Lesekompetenz. Aber ok. Gleich zu Beginn des Kapitels beschreibt Foucault, dass Demenz im 17. Jahrhundert lediglich eine Anhäufung von Symptomen ist. „Das ist ja noch heute so. Diagnostizieren kann man es nicht, Wir sammeln immer nur Symptome!“ – Klappt doch! Den Dementen (ohne Geist, wir besprachen kritisch, dass es gar nicht reiche, nur „Mensch mit Demenz“ zu sagen, sondern dass vor der Bedeutung des Wortes ja man wohl das ganze Wort GAR NICHT gehe. Sehr richtig!) setzte man mit Kindern gleich. Die Schüler kreideten das an, sahen aber auch Parallelen zwischen der historischen Sicht und der modernen Infantilisierung. „Wie die Kinder“ „Der blöde Honig im Kopf Film, das geht doch GAR NICHT!“ Bei einer Passage, wo dem dementier Erkrankten der Lebensgeist abgesprochen wird, interpretierten sie völlig richtig den Ansatz von Entmenschlichung. Und bei einer Aussage, wo Foucault einen Artikel aus dem 18 Jh. zitiert „irgendwas zwischen Blume und Tier“) fiel ihnen sofort die Sicherungsverwahrung aus dem Ausflug ein, wo die Freigänge aussahen wie Vogelkäfige. Auch Demenzdörfer wurden kritisch hinterfragt. Etwas frustriert fassten sie zusammen, dass sich eigentlich seit 500 Jahren ja gar nichts geändert habe. Dazu kann man nur traurig nicken.

Ich bin unfassbar stolz auf diese Leistung der Kurse, auch, wenn nicht 100 % der Schüler an Bord waren. Pflege KANN das, Pflege KANN philosophisch für sich selber sorgen, wenn es ihnen nur gezeigt wird. Pflege kann daraus ethisches Handeln ableiten. Aber wir verengen sie. Die Einteilung der mittelalterlichen Gesellschaft (und viel mehr der Frühneuzeitlichen) zwischen „Normalen“ und „den anderen“, die „die anderen“ ausgrenzt und vor die Städte in grünen Parks entsorgt, wurde auch im Zusammenhang mit SIS kritisch gesehen, wo der (digitalisierte) Prozess gar nicht mehr mit dem Bewohner stattfinden kann. Trennung. Otherness. Die künstliche Intelligenz wird von dem otherness-Bewohner ferngehalten. Das ist ethisch nicht korrekt, das ist Foucault in modern. Auch das Klassifizieren durch Böhm wurde kritisch hinterfragt. Und genau so soll das ja laufen. Es gibt kein richtig oder falsch bei mir in diesen Diskussionen. Es gibt Impulse…. und ich hoffe, diese selbst erarbeiteten Impulse bewirken etwas, stärken sie und ich hoffe, sie lesen weiter…

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