„Aber ich bin doch jetzt krank!“ – Vom Genuss einer Gesellschaft, Patient*in zu sein

Twitter. Ewige Weiten. Wir schreiben das Jahr 2021 und jeder darf das, was ihn stört, ins Internet schnauben. Und es stört viel. Vor allem, wenn man krank ist. Wartezimmerteweets lassen schon die quasi-pathologische Spannung aufkommen, wie es jetzt weitergeht. Und manchmal ist es dann soweit. Man landet im Krankenhaus. Und was gibt es da nicht alles zu twittern, zu fotografieren und zu berichten!

Der vielleicht meistfotografierte Schockmoment für Patienten ist das Mittagstablett. Das fotografierte Essen schmeckt nicht, ist lieblos angerichtet, zu wenig, falsch, und überhaupt stimmt da was nicht. Ungesund das Ganze. Und dann geht es immer los. Man KÖNNTE doch erwarten, dass es etwas Besseres zu essen gäbe. Wer soll denn DAMIT gesund werden? Mitleid macht sich unter den Follower breit und überhaupt ist das ja eine Unverschämtheit. Man würde sich beschweren, das Ganze grenze ja an einen Skandal. Essen ist die Hauptattraktion seit IMMER im Krankenhaus. Das hat man eigentlich gewusst, aber nun erwischt es einen wirklich selbst. Klar, seit Jahren berichten die Medien über Sparmaßnahmen, jeder weiß, dass der Tagessatz für Essen pro Patient bei ca. 4 Euro liegt und man muss nicht kochen können wie Sarah Wiener, um zu begreifen, dass das, was da auf dem Teller gelandet ist, mit Nahrung, Nachhaltigkeit, Vitaminen und Ernährung nichts zu tun hat. Man weiß es auch, aber es wurde halt erst schlimm, als man die Pampe selber essen sollte. Ganz schlimm wird es, wenn man passiertes Essen fotografiert. Das wird als Unverschämtheit enttarnt, das könne man doch lecker anrichten. Dass der Brei einem das Leben rettet, weil man sich nicht verschluckt und Ernährung überhaupt erst möglich macht, wird völlig untergeordnet. Wie man passiertes Hackfleisch lecker anrichten soll, können zwar 32 Milliarden Nutzer auch nicht sagen, aber um Lösung geht es dabei auch nicht. Es geht um den Genuss, nun selbst betroffen zu sein.

Auch beliebt ist der stete Hinweis darauf, dass hier wirklich Personalnot herrscht und dass wirklich niemand Zeit für einen hat. Sicher, das hat man gewusst, aber es sollte einen nicht selber treffen. So schrieb gestern ein Nutzer, er sei das erste mal respektvoll gewaschen worden. Was das genau hieße, kann er nicht so genau sagen, aber die Pflege habe gesungen und ansonsten irgendwas mit Musik gemacht. Was sich darauf entspann, war unfassbar interessant. Denn Pfleg selbst mutmaßte, es müsse sich um öffentlich gelegte Blasenkatheter gehandelt haben oder um Trennwände, die nicht eilig herbeigeschafft wurden. Nichts von alledem war der Fall, es ging einfach um eine vergleichsweise entspannte Situation und Gesang, vielleicht auch um das Stimmen der Chemie zwischen den beiden, man weiß es nicht genau. Entspannte Situationen benötigen Zeit. Zeit jedoch ist etwas, was nicht vorhanden ist. Wir werden nie wissen, ob es sich um einen Schülereinsatz handelte oder was das besondere Geheimnis an der Situation war. Viel spannender jedoch ist, dass das Hervorheben dieser scheinbar so besonderen Situation schlicht bedeutet, dass der Patient wahrnimmt, dass er die sonst nicht haben kann.

Auf meinen Einwand, dass die Bedingungen nun oft gar nicht möglich machen, was der einzelne fordert, wurde es noch spannender. Denn jetzt wäre natürlich die tricky Frage dran, weshalb das Ganze sonst nicht so relaxed läuft. Aber, oh Wunder, ALLE arbeiten nach eigener Aussage völlig relaxed, pflegen so, wie sie selbst gepflegt werden wollen, sind mit sich im Reinen und in Kliniken und Heimen ist alles easy. Wer diese Leistung nicht erbringt, der ist einfach unfähig.

Besonders spannend wurde es, als man sich einig wurde, dass, wer nicht sänge, ein Gewalttäter gegenüber dem Patienten sei.

Ich persönlich versichere jedem, dass ich so schlecht singe, dass es eher gewalttätig wäre, würde ich bei der Versorgung ein Lied trällern.

Ja, sagte der Patient, die Bedingungen seien schlecht, aber das wolle er, der Patient dann doch nicht ausbaden. Er sei ja krank.

Patient und Pflege sind im ewigen Dramadreieck. Der Patient zieht sich darauf zurück, das Opfer eines Systems zu sein, Opfer der (gewalttätigen) Pflege zu sein. Das wolle er nicht. Und das kann ich verstehen. Wer will das schon? Aber der Patient ist leider nicht nur Patient. Er ist auch Bürger, somit Souverän dieses Landes, der politisch durchaus Einfluss nehmen kann und könnte, es aber meist nicht tut. Zuständig für die Veränderungen sei die Pflege, die dafür sorgen müsse. Er sei der Kleinste in der Hierarchie. Entschuldigung, ich finde das unrealistisch.

Wechseln wir die Rollen im Drama und zeigen auf, dass der Patient BÜRGER ist, dann regt sich sofort Empörung. Nein, Bürger sei man nicht, sondern Patient. Das ist schön einfach, denn so finden wir trotz rasant wachsender Fallzahlen niemanden in diesem Land, der neben seinem Patiententum auch mündiger Bürger ist. Das leuchtet ein, denn dann wäre man ja für das, was einem in Kliniken an Behandlung widerfährt ja selbst verantwortlich.

Dann wäre es unethisch, dem armen Kranken daheim „seine Polin“ zum Pflegen zu holen oder in Kliniken Angestellte auszubeuten. Dann und nur dann funktioniert einfach die Story nicht mehr und der Patient ist kein Opfer. Opfer werden dann die, die es täglich ausbaden, weil sie die Lücke zwischen Erwartung und Möglichkeit mit ihrem persönlichen Einsatz so auffüllen sollen, dass die Lücke unsichtbar wird. Und wehe nicht.

Das kann bedeuten, dass Pflege privat Brot herbeischafft, weil das Brot in der Klinik nicht schmeckt. Das habe ich tatsächlich erlebt. Das kann bedeuten, dass man zu singen hat, dass man Verrichtungen übernimmt, die der Patient selber kann. Der Spielraum der Vorstellung und der Erwartung sind groß.

Ist es nicht verwunderlich, dass niemand von uns je einen mündigen Bürger im Krankenhaus getroffen hat, der sagt: „Himmel, ich wusste es, ich habe mich aber politisch einfach nicht dafür interessiert. Da muss ich jetzt durch, aber ich werde etwas ändern, wenn ich hier wieder draußen bin?“ Warum? Der Patient ist Patient. Seine Bürgerrechte, die er Jahre vorher hat oft schleifen lassen, sein Desinteressment an der Situation, mit all dem möchte er sich nicht konfrontiert sehen. Zuständig sollen andere sein. Das ist zwar so bigott wie Kreuzfahrttouristen, die sich fragen, wann mal endlich wer etwas gegen den Klimawandel und die Meeresverschmutzung tut, aber im Gegensatz zum Touristen soll man das dem Patienten nicht sagen, er ist schließlich Patient.

Nach abgeschlossener Behandlung zieht sich der Patient dann wieder in seine Bürgerrolle zurück und die Sache geht ihn nichts an. Bis zum nächsten Mal. Vielleicht noch eine Google-Bewertung des schlechten Hotels Klinik ins Netz rotzen, fertig ist der Aktivismus. Das geht soweit, dass sich Bewohner eines Altenheims beschwerten, als sie sich durch ein Plakat mit der Gesundheitspolitik konfrontiert sahen, unter der sie selber leiden. Ja, aber doch bitte nicht vor ihrer Haustür.

Der Papst sagte mal, wenn es keiner gewesen ist, dann waren es alle. Was da passiert, das ward Ihr Alle. Es gibt keinen Weg, sich rauszuwinden. Und die Empörung, die sich auftut, wenn man Euch daran erinnert, dass es in einem demokratischen Staat auch Eure Aufgabe gewesen wäre, mitzumachen, die zeigt mir, dass der Blickwinkel richtig ist.

Nach Feierabend soll die Pflege noch für Euch demonstrieren, für eine Gesundheitsversorgung, die IHR wollt. Das ist wirklich paradox, denn das macht Euch zu Tätern des Dramadreiecks. Ihr seid nicht die Opfer. Die eklige Suppe der DRG habt Ihr Euch eingebrockt. Ihr müsst sie auslöffeln. Guten Appetit!

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4 Kommentare zu „„Aber ich bin doch jetzt krank!“ – Vom Genuss einer Gesellschaft, Patient*in zu sein

  1. Wie oft erlebe ich Überraschung seitens meiner Patienten, die ja „schon mal“ was von den „Zuständen“ im Krankenhaus gehört hatten, aber angeblich nicht wussten, dass es „so schlimm“ sei. Wie überarbeitet wir doch wären. Wie viel zu tun sei. Wie stressig der Job doch wäre. Wie viel man als Pflegepersonal leisten muss.

    Und jedes Mal frage ich mich, wie komplett blind man durchs Leben gehen muss, um die letzten Jahrzehnte einfach rein gar nichts über die katastrophalen Umstände im Gesundheitswesen mitbekommen zu haben! Ich habe keinerlei Berührungspunkte im privaten Umfeld zu den meisten ausbeuterischen Branchen, weiß aber dennoch um die Zustände bei der DHL, Amazon, und, und, und… das kriegt eine „einfache, dumme Schwester“ hin, aber der Durchschnittsdeutsche, der ja zumindest ein Mal im Jahr beim Arzt vorbeischaut, weiß nicht, wie es uns allen geht?! Und wenn er es doch mal schafft, die ganz fest zugekniffenen Augen zu öffnen, ist sein scheinbar größtes Problem, wie unfreundlich die MTAs und Pflegefachpersonen sind (Stichwort „emotional labor“ im eigentlichen Sinne, nicht, was die letzten Jahre daraus gemacht wurde)?!

    Danke für den Text, Monja. Ich lese Deinen Blog gerne, aber an manchen Tagen und bei manchen Beiträgen stimmt er mich sehr, sehr traurig. Ach…

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  2. Vielen lieben Dank für deinen Blog. Ich bin auch so ein Nestbeschmutzer, der die Finger in die Wunden legt und nicht gute Miene zum bösen Spiel machen will. Deine Gedanken zu lesen helfen nicht den Verstand zu verlieren. Wir sind nicht alleine. Nur verlassen.

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